Warum soll ein glühender EU-Patriotismus moralisch höherwertiger sein als die herkömmliche Vaterlandsliebe der meisten Europäer?
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Es mag zwar ein wenig akademisch klingen, es ist aber gerade angesichts der nahenden Europa-Wahlen durchaus beachtenswert, was die designierte deutsche Bundeskanzlerin Annegret Kramp-Karrenbauer (salopp "AKK" genannt) jüngst als Grundsatz ihrer künftigen EU-Politik formuliert hat. "Ein europäischer Zentralismus, ein europäischer Etatismus, eine Vergemeinschaftung der Staatsschulden, die Vereinheitlichung der Sozialsysteme und ein europäischer Mindestlohn wären der falsche Zugang", meint sie. Und wird dann sehr grundsätzlich: "Die Arbeit der europäischen Institutionen kann keinerlei Anspruch auf moralische Überlegenheit gegenüber den gemeinsamen Anstrengungen der nationalen Regierungen für sich in Anspruch nehmen."
Sie antwortet damit eher reserviert auf die jüngst in einem offenen Brief an alle Europäer formulierte Forderung des französischen Staatspräsidenten Macron, noch mehr und noch mächtigere europäische Institutionen zu schaffen. Sie widerspricht damit aber ungewöhnlich, ja unerhört deutlich einem Mantra, das von den Befürwortern eines europäischen Bundesstaates immer und immer wiederholt wird: dass der herkömmliche Nationalstaat irgendwie dumpf, gestrig, kleinlich und insgesamt mehr schädlich als nützlich sei, wohingegen eine zum Staat gewordene Europäische Union weltoffen, zukunftsweisend und deshalb in jeder Hinsicht überlegen und vorzuziehen sei. Es ist dies eine Erzählung, in der letztlich eine nationalistische Dumpfbacke, also ganz schlecht ist, wer beim "Lied der Deutschen", angesichts der wehenden Trikolore oder bei den Tönen der Bundeshymne heimatliche Gefühle empfindet - aber ein glühender europäischer Patriot, also gut, wer die gleichen Emotionen angesichts des blauen Sternenbanners und Beethovens "Ode an die Freude" spürt. Wirklich logisch ist das nicht.
Noch weniger logisch oder auch nur nachzuempfinden ist in diesem Kontext auch, warum ein riesiger europäischer Nationalstaat nicht grundsätzlich mit den gleichen, von den Kritikern des heutigen kleineren Nationalstaates angeführten vermeintlichen Unzulänglichkeiten ausgestattet sein soll; etwa einer Neigung zum egoistischen Verhalten, zu einem gewissen Dominanzverhalten, gar der militärischen Projektion von Macht. Was daran besser oder gar moralischer sein soll, wenn es nicht auf der herkömmlichen Ebene des Nationalstaates ausgelebt wird, sondern in Form eines europäischen Staates, hat bisher noch niemand so recht erklären können.
Vielleicht, weil man es eben nicht erklären kann. Deshalb hat Frau Kramp-Karrenbauer wohl auch recht, wenn sie in der Folge postuliert: "Ein neues Europa kann nicht ohne die Nationen begründet werden. Denn sie verfügen über die demokratische Legitimität und Identifikation." Nur wenn das jeweilige nationale Interesse dieser Nationen auf Ebene der EU gebündelt wird, kann Europa Gewicht haben, argumentiert sie.
Wer mit einer großen Sehnsucht nach Visionen ausgestattet ist, wird dergleichen wohl als wenig nahrhafte europapolitische Schonkost kaum goutieren. Dafür hat der pragmatische Zugang der künftigen deutschen Kanzlerin einen kleinen realpolitischen Vorteil: Die Mehrheit der Europäer dürfte das nämlich so ähnlich sehen wie Frau Kramp-
Karrenbauer.