Eine Ergänzung zu Edmund de Waals Erinnerungsbuch "Der Hase mit den Bernsteinaugen".
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Edmund de Waals Buch "Der Hase mit den Bernsteinaugen" war ein großer Erfolg. Es erzählt die Geschichte der Familie Ephrussi als Suche eines Nachkommen nach seinem familiären Hintergrund. Eine für die Geschichte wichtige Figur fehlt allerdings in dem Buch, und auch in der Ausstellung, die das Jüdische Museum der Familie Ephrussi 2020 gewidmet hat. Im Katalog wird sie nur einmal erwähnt: Alexander Weiner, Österreichs wichtigster Bankier in der Zwischenkriegszeit und seit 1924 Chef der Privatbank Ephrussi & Co. Seit 1934 war Weiner Eigentümer von 60 Prozent der Anteile. Victor Ephrussi besaß nur 20 Prozent. Wie kam es dazu?
Edmund de Waal, Urenkel von Victor Ephrussi (1860-1945), erzählt die faszinierende Geschichte: Ein Familienzwist führte dazu, dass nach dem Tod des Vaters Ignaz Ephrussi (1829-1899) der an Geldvermehrung wenig interessierte Victor das Geschäft übernehmen musste. Und dieses Geschäft war nicht irgendeines: Die Familie war in Odessa im Getreidehandel reich geworden. Antisemitische Pogrome motivierten zur Transferierung des Vermögens nach Wien, wo Ignaz Ephrussi ein Bankhaus gründete, ein Bruder ging nach Paris. Ihre Spezialität wurde dann der Handel mit Osteuropa, insbesondere Russland.
Legendär wurde ein Coup, der Ignaz Ephrussi 1867 gelang, als die Getreideernte in der Ukraine hervorragend, in Westeuropa aber sehr schlecht ausgefallen war. 1869 konnte er in Wien - Juden konnten nun Haus und Grund erwerben - ein Ringstraßenpalais errichten lassen und galt als zweitreichster Mann nach Rothschild.
Ein guter Name
Sein Sohn Victor allerdings betrieb wie so mancher Erbe nur noch eine Vermögensverwaltung. Um 1910 nahm er unter den 926 Millionären Wiens nur noch den 258. Rang ein. Das noch immer beträchtliche Vermögen investierte er jedoch ab 1914 in Kriegsanleihen und verbrannte es auf diese Weise. Der Rest wurde durch die Inflation entwertet, die alten Geschäftsbeziehungen nach Osteuropa waren gegenstandslos. Mit einer Bank ohne Kapital konnte man nichts mehr verdienen. Der Betrieb war, wie ein Beobachter bemerkte, eigentlich "gleich null".
Ephrussi betonte selbst, er werde völlig überschätzt. Doch "Ephrussi" war in der Geschäftswelt immer noch ein guter Name. Internationale Finanziers suchten immer wieder nach renommierten Firmen, die nicht mehr aktiv waren, um sie als "Mantel" zu übernehmen. Eine deutsche Großbank, die Disconto-Gesellschaft (eine Vorgängerin der Deutschen Bank, mit der sie 1929 fusionieren sollte) beteiligte sich daher 1921 an Ephrussi, suchte aber nach jemandem, der fähig war, in der schwierigen Krisenzeit jene Geschäfte, die man überhaupt noch machen konnte, aufzuspüren.
Diesen Mann fand sie 1923 in Alexander Weiner (1876-1956). Er leitete seit 1903 sehr erfolgreich die Budapester Filiale des Wiener Bankvereins, wurde 1907 als Direktor-Stellvertreter nach Wien zurückgeholt und 1914 zum Direktor und Vorstandsmitglied ernannt. Sein Wechsel zur Bodencreditanstalt, der zweitgrößten Bank der Monarchie, erregte 1915 Aufsehen. Er wurde Generaldirektor und führte bei den wichtigsten Transaktionen der Bank Regie.
Als Experte für Industriekonsortien und Effektenhandel vertrat er die Bank weltweit. Zugleich schrieb er als Experte für die "Neue Freie Presse", wurde 1918 Mitglied des Hauptausschusses für Kriegs- und Übergangswirtschaft, 1919 Mitglied der Delegation bei den Verhandlungen in Saint-Germain.
1922 kam es jedoch zum Konflikt mit Rudolf Sieghart, dem Präsidenten der "Boden". Weiner wollte das Geschäftsgebaren des Präsidenten nicht mehr akzeptieren, der von Bankgeschäften nicht allzu viel verstand und eher - als Finanzier der aufkommenden Heimwehren - in die Politik investierte. Es kam 1923 zum Bruch, Weiner erhielt eine immense Abfindung von 700.000 Schilling samt einer jährlichen Pension von 180.000 Schilling.
Manche Experten munkelten schon damals, es sei ein schlimmes Zeichen, dass Weiner ging. Die "Boden" musste im Herbst 1929, um ihre Zahlungsunfähigkeit zu vermeiden, mit der Creditanstalt fusioniert werden, die CA selbst brach 1931 zusammen. Weiners Abfertigung beschäftigte die Öffentlichkeit jahrelang: Immer wieder wurde gefordert, die Regierung solle eine "Lex Weiner" verabschieden, also eine Beschränkung von Abfertigungssummen.
Gefragt & vernetzt
In der Finanzwelt verschaffte sie Weiner Respekt und steigerte sein Ansehen. Als Gustav Schlieper, Direktor der Berliner Disconto-Gesellschaft, von Weiners Ausscheiden aus der "Boden" erfuhr, wandte er sich umgehend an einen Freund in Wien: Man habe gehört, dass Weiner plane, eine Privatbank zu gründen. Er erfuhr, Weiner sei "eine ganz hervorragend begabte und dabei angenehme Persönlichkeit" und "ein höchst intelligenter Kopf", der über "große internationale Beziehungen" verfüge.
Schlieper kam zur Ansicht, Weiner sei jener Mann, der "aus dem kleinen Bankhaus Ephrussi & Co. etwas Interessantes machen" könne, da er für große Deals der Richtige sei, nicht zuletzt aufgrund von Weiners Freundschaft mit dem US-Bankier John Pierpont Morgan (1867-1943). Im Frühjahr 1923 war es Weiner noch gelungen, eine Beteiligung von Morgan an der "Boden" einzufädeln.
Die Disconto-Gesellschaft hatte in Wien von Beginn an einen eigenen Mann: Carl August Steinhäusser. Während Edmund de Waal Weiner kein einziges Mal erwähnt, kommt Steinhäusser häufiger vor, fälschlicherweise als "Stellvertreter" Victor Ephrussis. Steinhäusser war ein fähiger Bankier, der Mann für "das laufende Geschäft" und verdiente 1922 die gewaltige Summe von 80.000 Schweizer Franken, Weiner aber musste als gleichberechtigter Partner am Gewinn beteiligt werden, denn er hatte natürlich - wie er in den Verhandlungen signalisierte - weitere Optionen.
Sein Netzwerk war weitgespannt: Er war ein förderndes Mitglied des PEN-Clubs, Mitglied der Paneuropa-Union, der Politischen Gesellschaft, der Völkerbundliga, unterstützte das Künstlerhaus und war Mitglied der Museumsfreunde. Die Mitgliedschaft in der Gesellschaft österreichischer Volkswirte diente dem Austausch mit anderen Wirtschaftsexperten und Unternehmern. Schlieper erreichte, dass Weiner 1924 in das Bankhaus Ephrussi & Co. als Mit-Gesellschafter eintrat.
Es war nun völlig klar, wer der Chef des Hauses war. Bei Edmund de Waal ist zu lesen: "Viktor gehörte nun nur mehr die Hälfte der Familienbank." Ephrussi diente also nur noch der Fassade. In Wahrheit gehörte ihm überhaupt nichts mehr. Eigentümer der Bank waren die Disconto-Gesellschaft und einige ihrer Geschäftspartner, darunter Rudolf Gutmann. Ephrussi erhielt als Gesellschafter ohne Kapitaleinlage vom Reingewinn ein Prozent, Steinhäusser vier und Weiner 15 Prozent.
Neu aufgestellt
Ephrussi & Co. dehnte unter Weiners Leitung die Geschäfte erheblich aus, die Umsätze erreichten 1929 fast 90 Millionen Schilling. Vor allem aber war Weiner für die Leitung der Disconto-Gesellschaft immer "eine zuverlässige Informationsquelle, ein wertvoller Beobachtungsposten".
Die Zusammenbrüche der beiden größten Banken Österreichs, der "Boden" 1929 und der Creditanstalt 1931, führten aber auch bei Ephrussi zu schweren Einbußen. Viele Kunden zogen ihr Vermögen ab, die Umsätze sanken 1933 nicht nur auf 13 Millionen Schilling, sondern man machte auch einen Verlust.
Auch die seit 1929 mit der Deutschen Bank fusionierte Disconto-Gesellschaft wollte nun die Beteiligung loswerden. Die Spannungen zwischen Österreich und Deutschland nach Hitlers Machtergreifung 1933 trugen zu diesem Entschluss bei. Schließlich trat die Disconto-Gesellschaft 1934 Ephrussi & Co. für drei Millionen Reichsmark an Weiner, Steinhäusser und Ephrussi ab, die die Firma weiterführten. Weiner war nun mit 60 Prozent, die beiden anderen waren mit je 20 Prozent beteiligt.
Das Unternehmen konsolidierte sich in den Jahren bis 1938 hauptsächlich über Auslandsgeschäfte. Weiners Vernetzung mit der Hochfinanz - seit 1930 war er Vizepräsident und dann Präsident des Wiener Bankvereins und nach dessen Fusion mit der CA auch deren Vizepräsident - ermöglichte diesen Erfolg.
Nach dem "Anschluss" im März 1938 wurde Ephrussi & Co. arisiert: Der "nichtjüdische" Steinhäusser erwarb die Anteile von Weiner und Ephrussi, die beide mit ihren Familien emigrieren konnten. Weiner ging in die USA, Ephrussi nach England, wo er 1945 kurz vor Kriegsende im Alter von 85 Jahren verstarb. Seine Erben strengten eine Rückstellung an und erhielten 1948 in einem Vergleich 50.000 Schilling.
Restitutionen
Weiner bemühte sich ebenfalls um eine Restitution, doch erst 1954 wurden seine Ansprüche bestätigt. Im Hintergrund einigten sich Weiner und Steinhäusser darauf, ein Schiedsgericht anzurufen, das den "wahren Wert" des entzogenen Geschäftsanteils bestimmen sollte. Steinhäusser bot zunächst 600.000 Schilling, Weiner forderte zwei Millionen. Man einigte sich schließlich auf 1,565 Millionen.
Ephrussis Erben erhielten für ihren Geschäftsanteil von 20 Prozent 50.000, dementsprechend wäre ein Anteil von 60 Prozent mit 150.000 Schilling zu veranschlagen gewesen. Weiner erhielt jedoch mehr als das Zehnfache. Zwei Jahre später starb er 80-jährig in den USA. Er war eine jener Figuren, deren Bedeutung für die Geschäftswelt in Widerspruch zu ihrer Unbekanntheit stand. Heute ist er völlig vergessen.
Edmund de Waal schildert die Schicksale der Ephrussis und er benützt dazu Quellen und wissenschaftliche Arbeiten, in denen Weiner eine zentrale Position zukommt. Als Autor ist er in der Auswahl seiner Figuren frei und keineswegs verpflichtet, die Geschichte "korrekt" oder vollständig zu erzählen. Aber die Frage ist erlaubt: Warum wurde Weiner zum Verschwinden gebracht?
Passt der erfolgreiche Selfmademan nicht in das Bild einer Familie, die von einem Bankgeschäft lebte, dem sie längst entfremdet war? Das kam öfters vor. Die Privatbanken Thorsch und Rothschild waren prominente Beispiele. Weiner dagegen ist - neben Felix Somary - der einzige Privatbankier von internationalem Format, den Österreich im 20. Jahrhundert hervorbrachte. Es wäre an der Zeit, seine Geschichte zu erforschen. Bloße Erinnerungskultur ohne Forschung führt leicht in die Irre.
Peter Melichar, geboren 1960, ist seit 2009 Kurator für Geschichte im vorarlberg museum, Bregenz.