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Wer zahlt, der soll zählen: Streit um Stimmgewicht voll im Gang

Von Veronika Gasser, Brüssel

Europaarchiv

Beim nächsten Gipfel in Brüssel soll die neue EU-Verfassung beschlossen werden. Doch ob tatsächlich alle Regierungschefs zustimmen werden, ist höchst ungewiss. Noch wird hinter den Kulissen heftig herumgefeilscht. Was nach dem Konvent als besiegelt schien, wird jetzt in letzter Minute wieder auf- und zugeschnürt. Zünglein an der Waage sind wie immer die Fragen der Macht: Es geht um die Zahl der Kommissare und das Stimmengewicht im Rat, die jedem Land zugestanden werden.


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Der heiße Kampf heißt derzeit doppelte Mehrheit gegen Weiterführen der Nizza-Regelung. Hinter diesen sperrigen Begriffen verbirgt sich der Knackpunkt an dem die EU-Verfassung scheitern könnte.

Es geht um das Stimmengewicht der Staaten im EU-Rat. Die doppelte Mehrheit berücksichtigt zweierlei: Einerseits zählt jedes Land als Land gleich viel. Andererseits wird noch die Bevölkerungszahl berücksichtigt. Sollten in Zukunft Mehrheitsentscheidungen zustande kommen, dann müssen mindestens die Hälfte der Staaten (also 13) die zusammen mindestens 60 Prozent der Bevölkerung repräsentieren, zustimmen. Mit dieser doppelten Mehrheit soll der EU als Union der Staaten aber auch der Völker Rechnung getragen werden, erklärt der deutsche SP-Abgeordnete Klaus Hänsch. Die deutsche Regierung stehe vor dem Problem, ihren Bürgern die Entscheidungen in der Union schmackhaft machen zu müssen. Immer stärker setze sich eine gewisse EU-Skepsis durch. "Wir dürfen zwar zahlen, aber wir zählen nicht."

"Zurück zu Nizza"

Hänsch ist überzeugt, dass mit der doppelten Mehrheit die EU-Institutionen in seiner Heimat wieder an Akzeptanz gewinnen würden. Den Deutschen Politikern liegt dieser Punkt am Herzen. Doch es gibt starke und sehr entschlossene Gegner dieses Konventsvorschlags, die keine Gelegenheit nutzen dagegen Stimmung zu machen. So macht es Polen zur Überlebensfrage wieder zu "Nizza" zurückzukehren, also zu einem Stimmengewichtungssystem bei dem Polen gegenüber Deutschland stark bevorzugt ist. Spanien hat sich schon auf die Seite der Polen geschlagen. Und in EU-Kreisen wird auch schon kolportiert, dass sich Großbritannien dazugesellen würde. Schon im Irak-Krieg haben die drei eine Allianz gebildet und sich mit den USA verbündet. Vieles liegt beim Gipfel in der Hand Italiens, das den Verfassungsentwurf durchbringen oder zum Kippen bringen kann.

"Polen werden scheitern"

Sowohl in der EU-Kommission wie auch im Parlament gibt es große Befürchtungen, dass die Verfassung in der vorliegenden Version von den Regierungschefs nicht angenommen wird. Beide Institutionen finden die doppelte Mehrheit als faire Regelung. Nach außen hin zeigen sich die österreichischen EU-Abgeordneten zuversichtlich, dass es nicht zum befürchteten Eklat kommen wird. "Die doppelte Mehrheit ist ein demokratisches Prinzip im Vergleich zum Lotteriesystem von Nizza," wettert der Grüne Johannes Voggenhuber gegen die Spanisch-polnische Allianz. Auch Hannes Swoboda (S), Ursula Stenzel (V) und Daniela Raschhofer (F) halten das neue System für das richtige. "Die Polen-Strategie wird sich nicht durchsetzen," glaubt Stenzel. Manche Regierungen sind jedoch anderer Meinung. So will sich etwa Österreich noch nicht damit abfinden, dass die Entscheidung zugunsten der neuen Mehrheiten gefallen ist und macht dagegen auch Stimmung. Manche vermuten hinter der vehementen Ablehnung Österreichs auch erhöhten Druck um sicherzugehen, dass jedes Land einen eigenen Kommissar bekommt.

Voggenhuber warnt vor einem Scheitern der Regierungskonferenz: "Wenn die EU scheitert, dann driften wir in die Politik des 19. Jahrhunderts ab. Dann haben wieder die Regierungen gewonnen, die selbstherrlich über die Verfassung bestimmen."

In einem sind sich die meisten Beobachter sicher: Es wird zwischen Befürwortern der beiden Flügel noch einiges getauscht werden. Hänsch schließt im Fall des Falles ein Veto Deutschlands nicht aus. Damit zeigt sich: Nicht nur die Polen können die doppelte Mehrheit zur Überlebensfrage machen.