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Wer zieht die Fäden im zerfallenden Libyen?

Von Stefan Haderer

Gastkommentare
Stefan Haderer ist Kulturanthropologe und Politikwissenschafter.

Mit der Billigung von Muammar Gaddafis Ausschaltung im Bürgerkrieg öffnete der Westen die Büchse der Pandora - zulasten der Bevölkerung.


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Dem aufmerksamen Beobachter werden jene Bilder noch lebhaft in Erinnerung sein, die im Februar 2011 um die Welt gingen: Um seine Macht bangend und von zahlreichen Anhängern umjubelt, hielt Libyens Machthaber Muammar Gaddafi auf der Roten Burg im Zentrum von Tripolis eine flammende Rede. Doch selbst in seiner Festung, die vor dem Bürgerkrieg immer mehr Touristen angelockt hatte, war er den Rebellen ausgesetzt. Mit Gaddafis Macht ist auch Libyens Einheit zerbröckelt.

Von einer Souveränität des einst wohlhabendsten Staates auf dem afrikanischen Kontinent kann nicht länger die Rede sein.

Wer angesichts der jüngsten Angriffe auf friedliche Demonstranten noch von einem "demokratischen Übergang" spricht, ist entweder realitätsfremd oder genießt das Chaos, das geradezu nach westlichen Interventionen - auf militärischer wie ökonomischer Ebene - schreit. Vor seiner Ermordung - Gaddafis Mörder kamen selbst in kriegerischen Auseinandersetzungen ums Leben - hatte der exzentrische Despot die Bevölkerung vor der Machtübernahme durch Al-Kaida nahestehende Kräfte gewarnt und wurde dafür im Westen als "Verrückter" belächelt. Wenige Monate später gingen dann so manchen Europäern und Amerikanern die Augen auf, denn mit der Billigung von Gaddafis Ausschaltung öffnete man die Büchse der Pandora.

Jetzt weigern sich die Rebellen, ihre Waffen aufzugeben, und machen als Milizen das Land unsicher. Der Westen bemüht sich, um jeden Preis Allianzen mit den verfehdeten Fraktionen einzugehen, um den Rohstoffinteressen Chinas und Russlands zuvorzukommen.

Wer in Libyen die Befehlsgewalt innehat, kann keiner recht sagen. Zur Wahrung der nationalen Sicherheit wurden lose Verbände wie ein Oberstes Sicherheitskomitee und der "Libya Shield" gegründet, dem hauptsächlich Stämme der Städte Misrata und Zawiya angehören. Diese werden Berichten zufolge vom Emirat Katar und von der Türkei finanziell unterstützt. Doch auch die Zintan-Stämme, die für die Festnahme von Saif Gaddafi verantwortlich gemacht werden, mischen mit und werden angeblich von Frankreich und den Vereinigten Arabischen Emiraten begünstigt. Besonders den Herrschern am Arabischen Golf war der scheinbar unermessliche Ölreichtum Gaddafis stets ein Dorn im Auge. Umso höher sind jetzt wohl die Bemühungen jener Staaten, ihren Einflussbereich in Nordafrika auszuweiten.

In bekannter kolonialer Manier versuchen westliche Regierungen, Koalitionen zu schmieden und Libyens Stämme gegeneinander auszuspielen, um mit dem größtmöglichen Profit auszusteigen. Dass diese Strategie langfristig gesehen in einem Land, das allmählich im Bürgerkrieg zerfällt, nicht aufgehen wird, sollte einleuchten. Unschuldige Menschen wie jene in Gargur, einem Stadtteil in Tripolis, werden mit Waffengewalt von Misrata-Milizen aus ihren Häusern und Siedlungen vertrieben und protestieren dagegen. Dies ist also der Preis, den die Libyer für das Ende der Gaddafi-Diktatur bezahlen. Es ist aber auch der Preis, den die USA und Europa wohlwollend hinnahmen.