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Brasilien wählt. Der Kandidat der Oberschicht gegen die Präsidentin der Armen. Weiß gegen Schwarz. Süden gegen Norden. Der Wahlkampf ist giftig und spannend. Mittendrin: die neue und junge Mittelschicht eines sich wandelnden Landes.
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Rio de Janeiro. Als Helaine Alves nach halbstündiger Fahrt aus dem Bus steigt, stehen fünf Soldaten vor ihr. Die Augen hinter Sonnenbrillen verborgen, die Zeigefinger an den Abzügen ihrer Gewehre. Die Männer mustern Alves, lassen sie vorbei, lehnen sich gelangweilt zurück. Seit der Fußballweltmeisterschaft geht das schon so, es ist ein alltägliches Ritual, für beide Seiten. Kurz vor dem Anpfiff der Fußball-WM im Sommer wurden mehrere tausend Soldaten in die größte Favela Rio de Janeiros geschickt, den Complexo da Maré. Man wollte die Drogengangs in dem Viertel in Schach halten. Weil nun Präsidentschaftswahlen sind, entschied man: Die Soldaten bleiben. Sicher ist sicher.
Wenn Helaine Alves zur Arbeit kommt, betritt sie militärisch besetztes Gebiet. Sie läuft entlang unverputzter Häuschen, vor denen sich der Müll türmt und an vielen Stellen das Abwässer ungeklärt abläuft. "In der Maré leben die Abgehängten", sagt Alves. Sie ist hier Lehrerin, gibt Unterricht an zwei öffentlichen Schulen. In gewisser Weise kehrt sie damit jeden Morgen in ihre Vergangenheit zurück. Denn es gab eine Zeit, da war es unwahrscheinlich, dass eine wie Alves einmal eine richtige Arbeit finden würde. "Wahrscheinlicher war es", sagt sie, "dass ich putze oder Straßenverkäuferin geworden wäre." Alves stammt vom gleichen Ort wie ihre Schüler, einem Ort namens Armut. Sie konnte ihm entkommen, gehört heute zur neuen brasilianischen Mittelschicht. Der Classe C.
Am Sonntag muss sich Alves entscheiden. Brasilien wählt einen Präsidenten. Der Wahlkampf ist der spannendste der letzten zwölf Jahre. Von einem "Krieg zwischen zwei Brasilien" ist die Rede: der reiche, weiße, industrialisierte Süden gegen den ärmeren, ländlicheren Norden. Der Kandidat der Oberschicht, Aécio Neves, gegen die Präsidentin der Armen, Dilma Rousseff. Deren Arbeiterpartei, die Partido dos Trabalhadores (PT), regiert Brasilien seit zwölf Jahren. Die Wahl ist auch eine Abstimmung über ihr Erbe. Und ob ihre Ära nun endet.
Dass die PT verbraucht sei und Brasilien einen "Wertewandel" benötige, ruft Oppositionskandidat Neves verschwitzt von einer Bühne an Rios Copacabana. Der 54-Jährige war Gouverneur des drittwichtigsten brasilianischen Bundeslandes, Minas Gerais, erwarb sich in dieser Zeit das Image eines Pragmatikers und Playboys. Affären um Nepotismus und Alkohol am Steuer hängen ihm bis heute nach.
Nun verspricht er vor allem zweierlei: weniger Staat und das Ende der Ära PT. Einer seiner Anhänger an der Copacabana, Anfang fünfzig, Bermudas, T-Shirt, Baseballcap, sagt, dass Brasilien in Bürokratie ersticke. Er sei Besitzer einer Modeboutique und könne ein Lied davon singen. Die PT sei eine "Bande von Dieben", wie der Korruptionsskandal um die staatliche Ölgesellschaft Petrobras beweise. Der Mann schimpft auf die hohe Inflation und ruft, dass die "kommunistischen Kanaillen" vertrieben werden müssten: "Dilma soll nach Kuba gehen!"
Aécio Neves hat einen anderen Habitus. Und auch kein Problem damit zuzugeben, dass Brasilien unter der PT ein anderes Land geworden ist. Ein besseres Land: 35 Millionen Menschen sind der Armut entkommen. Der Hunger wurde ausgemerzt. Es herrscht annähernd Vollbeschäftigung. Der Mindestlohn stieg um 262 Prozent. Alphabetisierung, Elektrifizierung auf dem Land, Hochschulstipendien, der Bau von Häusern für die Armen - überall positive Ergebnisse. Und am wichtigsten vielleicht: Mehr als die Hälfte der Brasilianer zählt heute zur Mittelschicht, der Classe C. So wie Helaine Alves. Sie glaubt: "Brasilien ist gerechter geworden."
Ansprüche anmelden
Alves, 35 Jahre alt, ist ein Kind des Wandels. Die erste Generation, die nicht mehr von der Militärdiktatur, sondern vom Internet geprägt wurde. Die weiß, dass heute vieles besser ist als früher. Die aber auch sieht, was nicht klappt. Und die keine Lust hat, ständig zurückzuschauen, sondern Ansprüche anmeldet. Ohne Alves’ Stimme, das wissen Neves und Rousseff, können sie die Wahl nicht gewinnen. Für Neves reicht es nicht, Modeboutiquebesitzer zu begeistern. Und nur mit Sozialtransferempfängern kommt auch Rousseff nicht weit. "Ich wuchs in der Rocinha auf", sagt Alves auf dem Weg zu ihrer Schule. Es klingt wie ein Urteil, eine Guillotine. Die Rocinha ist eine riesige Favela im Süden Rios, und jahrzehntelang war Herkunft der entscheidende Faktor für die Chancen im Leben eines Brasilianers. Wer arm war, blieb es auch. "Meine Mutter war aus dem Nordosten hergezogen", sagt Alves, "Landflucht." Ihren Vater hat sie nie kennengelernt. Dennoch ging Alves auf eine der besten Schulen Rios. Sie sagt, das sei auch der Bildungspolitik der PT zu verdanken, die Menschen wie ihr die Türen geöffnet habe.
Heute lebt Alves mit ihrer Mutter in einer bürgerlichen Ecke in Zentrumsnähe. Sie hat dort eine Wohnung gekauft, mit einem Spezialkredit, den die Regierung für arme Antragsteller aushandelt hatte. Die Wohnung ist heute ein Vielfaches wert, weil die benachbarte Favela von der Befriedungspolizei besetzt wurde. "Es wird zumindest nicht mehr täglich geschossen", sagt Alves.
Helaine Alves war Anfang 20, als Inácio Lula da Silva mit dem Versprechen Präsident wurde, Brasilien ein wenig gerechter zu machen. Alves war damals Mitglied in Lulas Arbeiterpartei, der PT. Die Wahl des ehemaligen Metallarbeiters, über den die Oberschicht spottete, weil er nicht sprach, aß und sich kleidete wie sie, stellte eine kleine Revolution dar. "Wir waren voller Hoffnung", sagt Alves. Schon bald schuf die Regierung groß angelegte Sozialprogramme, die heute weltweit als Vorbild gelten. Schnell wurden aber auch die Grenzen des Projekts deutlich. Um Mehrheiten im Kongress zu erhalten, schmiedete Lula Allianzen mit den alten Eliten. Diese verhinderten tiefgreifende Reformen, die ihre Privilegien hätte gefährden können. Schon in den ersten Regierungsjahren verspielte die PT so ihren Nimbus als revolutionäre Kraft. Am schlimmsten war, dass sie zudem - traditionelle brasilianische Politik - ein System des Stimmenkaufs im Parlament etablierte. Auch eine Landreform, eine Steuerreform oder eine Reform der Sicherheitskräfte ließ Lula liegen.
Und in der Wirtschaft? Setzte er auf Export: Soja, Eisenerz, Öl. Die Preise waren ja hoch, und die Chinesen kauften. So finanzierte seine Regierung die Sozialprogramme, mit denen Millionen aus der Armut geholt wurden. Sie waren jetzt Konsumenten, gingen zum ersten Mal im Leben shoppen: Fernseher, Waschmaschinen, Computer. Dazugehörigkeit definierte sich durch Konsum. Auch dieses Modell ist jetzt an seine Grenzen gestoßen.
Als Dilma Rousseff 2010 Lulas Nachfolge antrat, galt Brasilien zwar als kommende Macht des 21. Jahrhunderts - symbolisiert durch die Vergabe der Fußball-WM und der Olympischen Spiele 2016 -, doch Helaine Alves war schon längst nicht mehr bei der PT. "Ich war enttäuscht. Die PT vergaß den Umbau Brasiliens." Alves hatte jetzt zwar ein iPhone, aber auf ihrem Weg zur Arbeit stank der Müll zum Himmel. Bei den Protesten 2013 gegen die Milliardenausgaben für die Fußball-WM war Alves jeden Tag dabei. Sie sah, wie die Militärpolizei Demonstranten mit Tränengas und Schockbomben eindeckte. Zur WM reiste Alves nach Deutschland und Italien. "Fußball ist mir egal." Auch die Möglichkeit zu reisen unterscheidet sie von ihrer Mutter, die, 60 Jahre alt, Brasilien nie verlassen hat und die Welt für tendenziell gefährlich hält. "Wenn ich mein Geld für etwas ausgebe", sagt ihre Tochter, "dann, um andere Länder zu sehen."
Es ist wie beim Fußball
Nun buhlen Dilma Rousseff und Aécio Neves um Helaine Alves. Nur: Alves ist weder von Dilma noch von Aécio überzeugt. Präsidentin Rousseff, Tochter bulgarischer Einwanderer, wirkt bei ihren Auftritten vor allem stoisch. Wie mit einem Panzer ausgestattet, durch den fast keine Emotionen zu dringen scheinen. Sie sei so distanziert, sagen manche, weil sie als junge Guerillera in den Kerkern der Diktatur gefoltert wurde, es sei ihr Umgang mit dem Schmerz. Wenige Tage vor der Wahl fährt Rousseff in luftiger Bluse auf einem Pick-up-Truck durch einen der Vororte, die sich nördlich von Rio in die Ebene ausdehnen. Die Stimmung ist wie auf einem Volksfest. Die Präsidentin ruft dem zumeist dunkelhäutigen Publikum zu: "Was gut ist, wird fortgesetzt. Was nicht klappt, wird verbessert." Und wie eine strenge Mutter warnt sie vor ihrem Herausforderer. Der sei ein Risiko, einer, der den Wandel verspreche, aber in Wirklichkeit die Zeit zurückdrehen wolle.
Wandel! Auch Helaine Alves sehnt ihn herbei. Doch der Alltag lässt die oft daran denken, dass Brasilien eben nicht das schöne Mittelschichtenland der PT-Fernsehspots ist. Brasilien sei eher das Land des 1:7 im WM-Halbfinale gegen Deutschland, meint Alves. Ein Ort des schönen Scheins, von dem nicht viel bleibe, wenn man sich mit Europa vergleiche. Und dennoch will Alves am Sonntag für Dilma Rousseff stimmen. Aus Mangel an Alternativen. Denn Aécio Neves, der wäre nun wirklich eine Katastrophe. Der repräsentiere das Gegenteil von allem, woran ich glaube, sagt Alves: "Gleichheit, Gerechtigkeit, Solidarität."