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Medien überbetonen die Rolle Sozialer Netzwerke in den Aufständen der vergangenen Jahre. Doch einen Effekt kann man ihnen nicht absprechen.
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"Die Revolution wird nicht getwittert werden", titelte Autor Malcom Gladwell seinen Kommentar im "New Yorker" zum revolutionären Potenzial von Social Media. Wenige Monate später begannen die Proteste, die wir heute als Arabischen Frühling kennen. Seine These: "Social Media können das nicht bieten, was gesellschaftliche Veränderung immer schon benötigte." Um gesellschaftsverändernd zu agieren, bräuchte es nicht die "weak ties" Sozialer Netzwerke, sondern "strong ties" - echte Freundschaften, die dafür sorgen, den freiheits- und lebensbedrohenden Akt der Rebellion gegen ein herrschendes Unrechtssystem nicht aufzugeben. Die amerikanische Bürgerrechtsbewegung der 60er Jahre, so Gladwell, schaffte es auch ohne Twitter, sich zu organisieren.
Damit hat er nicht unrecht: Natürlich reicht virtueller Protest nicht aus, um Systeme zu stürzen. Natürlich gab es bereits vor Entstehen des Internets erfolgreiche Revolutionen. Natürlich überbetonen westliche Medien die Rolle Sozialer Netzwerke in den Aufständen der vergangenen Jahre. Doch einen Effekt kann man ihnen nicht absprechen. Wenn 80.000 Menschen auf Facebook ankündigen, an einer Demonstration gegen Mubarak teilzunehmen, dann ist das nicht irrelevant, selbst wenn dann nicht alle tatsächlich am Tahrir-Platz erscheinen. Es bringt eine Bewegung zum - von Gladwell in einem anderen Text beschriebenen - "Tipping Point"; jener mysteriöse Punkt, an dem eine Idee beginnt, sich viral zu verbreiten.
Dabei ist nicht neu, dass politischer Diskurs stattfindet, sondern dass er öffentlich stattfindet - und damit auch ein Bekenntnis gegen ein Regime veröffentlicht. Das kann in Diktaturen lebensbedrohend sein, vor allem, wenn das Regime weiß, wie man die Möglichkeiten des Internets für seine eigenen Ziele verwendet: überwachen, Falschinformationen verbreiten, das Netz abdrehen. Letztere Taktik ging etwa in Ägypten nach hinten los: "Wir fühlten zum ersten Mal, dass das Regime Angst hatte", resümierte ein Aktivist nach den Protesten auf einer Konferenz in New York. Weil das Netz Aktivität nicht nur im positiven Sinne veröffentlicht, sind Aktivisten am Boden sehr vorsichtig, wenn es um die Organisation von Protesten online geht. SMS-Dienste, die Protestierende schnell und sicherer lenken können, sind der öfter genutzte Kanal.
Eine wesentlich größere Rolle spielen Soziale Medien in der Bekanntmachung der Proteste im Rest der Welt, wenn etwa die Medien im Land gleichgeschaltet sind. Die türkischen Gezi-Proteste schafften sich über das Netz weltweit Gehör, während CNN Turkey Bilder von Babypinguinen ausstrahlte. Damit erschufen sie eine Informationsquelle für ausländische Journalisten, denen der Zugang zum Land verweigert wurde, und für Interessierte, die das Geschehen im Minutentakt mitverfolgen wollten.
Die Entwicklungen in Nahost und Nordafrika beweisen damit, dass Soziale Medien traditionelle Organisations-, Kommunikations- und journalistische Formen nicht ersetzen, sondern ergänzen. Gladwell hat fast recht: Die Revolution wird nicht - nur - getwittert werden.