)
Werner Nachtigall, Professor für Bionik, erklärt, was Techniker von der Natur lernen können, und denkt über alternative Energien der Zukunft nach.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 14 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
"Wiener Zeitung": Herr Professor Nachtigall, was bitte ist Bionik? Werner Nachtigall: Bionik betreiben bedeutet Lernen von der Natur für die Technik. Dabei kommt man auf auf Lösungsmöglichkeiten, die man sonst nicht findet.
Was inspiriert Sie an der Natur?
Es ist faszinierend, wie die Natur mit unterschiedlichen Lebensumständen zurecht kommt. Zum Beispiel, wie Bäume ihre Gestalt und ihre Tragfähigkeit mit steigender Meereshöhe ändern, um der Schneelast gewachsen zu sein.
In den Medien wird Bionik oft auf den Lotusblüteneffekt oder den Fuß des Leguans, also auf selbstreinigende Materialien und bessere Klebstoffe reduziert. Gibt es auch dringendere Probleme?
Für einen Forscher, der Insektenfüße untersucht, gibt es keine wesentlicheren Probleme als diese.
Haben Forscher der Gesellschaft gegenüber Verantwortung?
Bei Grundlagenforschern sage ich: Nein, solange ihre Forschung der Menschheit nicht schaden kann. Aber Hand aufs Herz: Wenn die solare Wasserstofftechnik nicht entwickelt wird, wird die Menschheit nicht durchkommen. Manche Bereiche der Bionik muss man erforschen, weil sie überlebensstrategisch notwendig sind.
Ist die Bionik eine kreative Wissenschaft?
Keine Wissenschaft, die ernsthaft betrieben wird, kommt ohne Kreativität aus. Man muss gezielt beobachten und die Kunst des Abstrahierens beherrschen. Ein normaler Mensch findet die Natur schön. Auch der Wissenschaftler findet die Natur schön, doch beim Betrachten einer Libelle fragt er sich: Wieso bleibt das Tier in der Luft stehen, obwohl die Flügel nach vorne schlagen?
Und wie macht sie das?
Sie hat zwei Flügelpaare. Die Drehmomente des einen Flügels gleicht sie durch gegenläufige Momente des anderen Flügels aus. So heben sich alle Seitenkräfte gegenseitig auf und netto bleibt reine Hubkraft über.
Sehen Sie sich als Mittler zwischen Natur und Technik?
Einem guten Grundlagenforscher geht es nur um neue Erkenntnisse. Was danach damit passiert, ist ihm völlig egal. Ich habe jahrelang geforscht, wie Fliegen fliegen. Natürlich ist das ein gewisser Luxus. Andere beschäftigen sich mit der vernünftigen Frage, warum Autoreifen auf der Straße nicht ins Rutschen kommen.
Ist die Frage, wie Fliegen fliegen, unvernünftig?
Die Faszination dieses Problems besteht darin, dass man es bisher nicht gewusst hat. Die Fliege bewegt ihre Flügel 200 Mal in der Sekunde auf und ab. Nach klassischen Berechnungsmethoden bringt sie dadurch aber nur die Hälfte der zum Fliegen nötigen Leistung auf.
Zusammen mit anderen Wissenschaftern habe ich Jahre lang daran gearbeitet, die andere Hälfte der Flugleistung zu finden. Sie entsteht durch ein schnelles Zusammenklappen der Flügel, die Luftwirbel erzeugt. Der Fliegenflug ist also komplexer, als es den Anschein hat. Im Wesentlichen habe ich ein Jahrzehnt an der Fliege geforscht. So lange braucht man schon, um eine Grundlagenfrage zu erforschen. Teil der Arbeit ist es natürlich auch, die Leute davon zu überzeugen, dass man Geld dafür braucht. Später haben wir dann über den Vogelflug gearbeitet. Unsere Ergebnisse werden jetzt in England und Amerika zur Entwicklung kleiner Spionageflugzeuge genutzt. Die sollen 30 bis 40 km/h fliegen, eine halbe Stunde in der Luft bleiben und den bösen Feind ausspionieren - alles nach dem Prinzip des Tierfluges.
Muss sich Wissenschaft rechnen?
Nein. Wenn sich Wissenschaft rechnet, ist das wunderbar, aber eher ein Nebeneffekt. Wissenschaft ist ein Kulturgut, und Kulturgüter rechnen sich nie.
Womit beschäftigen Sie sich gerade?
Mit der Frage, wie ein Wasserkäfer schwimmt und ob man daraus etwas für die Konstruktion neuartiger Unterwasserrümpfe lernen kann.
Wie macht man das?
Wir blasen Rümpfe von Wasserkäfern zu großen Modellen auf, die dann im Wasser- und im Windkanal vermessen werden, um zu sehen, ob sie als widerstandsarme Rümpfe für U-Boote oder andere Fahrzeuge geeignet sind.
Ist die Natur denn raffinierter als der menschliche Geist?
Die Frage ist im Grunde nicht relevant. Denn der Geist existiert für den Naturwissenschafter gar nicht. Das Gehirn ist Teil der Natur. Natürlich ist der Mensch durch sein Gehirn in der Lage, anders schöpferisch tätig zu sein als andere Lebewesen. Aber im Grunde gibt es keinen Unterschied zwischen Natur und Geist.
Wir bewegen uns seit über hundert Jahren mit Hilfe des Verbrennungsmotors fort. Jetzt geht das Öl zur Neige, und wir stehen ohne Alternative da. Ist die Natur da nicht raffinierter?
Mit dem Verbrennungsmotor hat der Mensch versucht, die Natur zu überwinden und Pferde- oder Ochsenkraft maschinell zu ersetzten. Je mehr man jedoch daraufkommt, dass die Abgase die Umwelt beschädigen und die fossilen Brennstoffe allmählich zu Ende gehen, desto mehr werden wir gezwungen, über neue Technologien nachzudenken. Deswegen müssen wir die ausgereiften Methoden der Natur im Umgang mit Energie studieren.
Welche Lösungen des Energieproblems sehen Sie?
Ein Weg ist die Fusionstechnik. Wenn es tatsächlich gelingen sollte, diese technisch machbar und sicher zu machen, dann wäre das die Lösung des Energieproblems. Das wird aber, wenn überhaupt, erst in 100 Jahren gelingen. Eine andere Möglichkeit ist die Kernenergie, die allerdings in dem Moment weltweit verboten würde, wenn ein Vorfall wie 1986 in Tschernobyl in Paris, London, New York oder Tokio passieren sollte und ein dichtbesiedelter Landstrich unbewohnbar würde. Die Chance, dass das irgendwann geschieht, ist nicht gering. Und die Endlagerprobleme sind auch nicht gelöst. Die Kerntechnologie wird schöngeredet.
Was bleibt dann als Alternative?
Die solare Wasserstofftechnologie, und dabei ist eine artifizielle Photosynthese die zukunftsträchtigste Basis. Eine andere Möglichkeit wäre die elektrolytische Erzeugung von Wasserstoff mit riesigen Spiegelflächen in entsprechend sonnenreichen Regionen. Davon abgesehen, existieren Technologien für den Umgang mit regenerativen Energiequellen: Wind, Wasser, Gezeiten, Biomasse, Erdwärme, etc.
Das Gegenargument lautet, dass Solarenergie schlechte Wirkungsgrade habe und zu teuer sei.
Wenn die künftige Architektur so ausgerichtet ist, dass alle Außenflächen systematisch zur Sammlung von Sonnenenergie genutzt werden, dann können Sie nicht nur das eigene Haus autark betreiben, sondern darüber hinaus Solarstrom ins Netz einspeisen. Das funktioniert heute schon. Man sollte nicht dauernd über den Wirkungsgrad diskutieren, sondern die Flächen der Solarkollektoren massiv vergrößern. Platz dafür haben wir genug.
Wird die Photosynthese künftig die Verbrennungstechnologien ersetzen? Und wenn ja, wann?
Die Photosynthese ist im Wesentlichen bereits erforscht. Man weiß, wie sie funktioniert, man kennt ihre Wirkungsgrade; aber die artifizielle Photosynthese wird erst in etwa 15 bis 20 Jahren einsatzfähig sein. Es geht leider nicht schneller. Die Forschung wurde halt lange Zeit blockiert.
Von wem?
Von allen, die ihre Energie verkaufen möchten. Energieunternehmen sind ja gewinnorientiert. Sie verkaufen, was im Moment vorhanden ist, und lassen möglichst keine Konkurrenzentwicklung zu.
Welche Chance hat dann die Photosynthese überhaupt, wenn sie teuer und unausgereift ist?
Jede Chance. Ob sie teuer ist, ist völlig irrelevant. Wenn keine andere Energie vorhanden ist, muss jeder Preis gezahlt werden. Und wenn alle ungenutzten Flächen, wie Gartenzäune oder Fahrbahnbankette tatsächlich mit langfristig funktionierenden Paneelen genutzt werden, dann wird Solarenergie auch einen genügend hohen Energieanteil liefern können.
Wird das Zeitalter der Solarenergie die Gesellschaft verändern?
Selbstverständlich. Die gesellschaftliche Ordnung ist immer eine Funktion der technologischen Möglichkeiten. Die Gesellschaft hat sich ja auch mit der Einführung der Datenverarbeitung dramatisch verändert.
Was halten Sie von dem Zitat: "Nur ein Idiot betreibt jene Forschung, welche die Probleme der Welt löst, denn dann verdient man ja damit kein Geld mehr"?
Ja, das stimmt. Die Leute, die Kohlekraftwerke bauen, sind ja nicht dumm. Sie nützen fossile Brennstoffe, solange wie möglich. Und wenn es mit dem Erdöl vorbei ist, werden sich alle auf die neuen Technologien stürzen und diese für teures Geld verkaufen. Gleichzeitig aber alles unterdrücken, was in ferner Zukunft vielleicht noch besser sein könnte. Das funktioniert halt so in einer kommerziell orientierten Gesellschaft.
Das klingt ziemlich resignativ.
Ich habe das in der Automobilindustrie selbst erlebt. Bei einem Projekt für einen großen deutschen Autokonzern habe ich für den Stadtverkehr kleine, leichte Elektroautos vorgeschlagen: Maximal 500 kg schwer, maximale Laufstrecke 30 bis 50 km, mit einem Solargenerator aufzuladen. Alle waren begeistert - doch dann sagten sie: "Wenn wir das umsetzten, machen wir unseren großen, sportlichen Autos Konkurrenz, für die wir mühsam Werbeslogans erfunden haben, wie toll es ist, schnell zu fahren". Das Schnellfahren wird aber ohnehin bald vorbei sein.
Ist das Forscherleben nicht manchmal frustrierend, wenn gute Ideen am Geld scheitern?
Man lernt aus der Geschichte. Und die zeigt, dass man mit der Entwicklung von Alternativen nicht erst anfangen darf, wenn ein System sein Maximum überschritten hat, sondern bereits vorher, wenn es am schnellsten wächst. Denn bis die neue Technologie entwickelt ist, muss die alte noch funktionieren. Da sind wir Bioniker auch als Vordenker gefragt. Bei der Solarenergie ist dieser Punkt längst überschritten. Damit hätten wir schon vor 20 oder 30 Jahren anfangen sollen.
Werden wir in Zukunft sogar Leben erschaffen können?
Ich denke nicht, dass es möglich ist, Leben in all seinen Facetten überhaupt zu verstehen. Und hoffentlich wird es auch nicht möglich sein, künstliches Leben zu schaffen, das gegen das evolutiv gewachsene Leben ausgespielt wird. Aber ich bin ganz sicher, dass es möglich ist, vorhandenes Leben mit der Gentechnologie so zu modifizieren, dass das, was unsere Kindeskinder als Natur empfinden werden, mit dem, was wir heute kennen, nichts mehr zu tun hat. Es wird keine klassischen Haustiere mehr geben, und - davor habe ich wirklich Angst - es wird auch gentechnisch veränderte Menschen geben.
Zur Person
Werner Nachtigall, geboren 1934, studierte Biologie, Physik, Chemie und Geographie an der Universität München und promovierte im Fach Zoologie. Ab 1969 bekleidete Nachtigall die Stelle als Ordinarius am Zoologischen Institut der Universität des Saarlandes in Saarbrücken. Dort baute er eine bewegungsphysiologische Arbeitsgruppe auf und gründete 1990 die Ausbildungsrichtung sowie eine Gesellschaft namens "Technische Biologie und Bionik". Heute leitet er das Bionik-Kompetenz-Netz "Biokon" an der Universität des Saarlandes.
Sonja Stummerer, geb. 1973, und Martin Hablesreiter, geb. 1974, leben als Architekten, Designer und Autoren in Wien.