Zur Kontroverse um die Wertfreiheit der Ökonomik.
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Die Debatte, wie wertfrei die Wirtschaftswissenschaft ist, hätte vor 70 Jahren geführt werden können. Denn einsichtige Ökonomen wie Richard Rudner erkannten schon 1953: "Werturteile sind essenziell in den Vorgang des wissenschaftlichen Arbeitens involviert." (in "The scientist qua scientist makes value judgements") Dessen ungeachtet hat sich im neoklassischen Mainstream die Wunschvorstellung gehalten, die Ökonomik ginge "leidenschaftslos wie eine Naturwissenschaft zu Werke".
So führen die weltweit führenden Lehrbuch-Autoren N. Gregory Mankiw und Mark P. Taylor in
die Volkswirtschaftslehre ein. Paul A. Samuelson und William D. Nordhaus stellen gar den Anspruch, "dauerhafte Wahrheiten" zu lehren. Die Autoren dürften von Milton Friedmans Geisteshaltung inspiriert sein: "Positive Wirtschaftswissenschaft ist grundsätzlich frei von irgendeiner bestimmten ethischen Position oder einem normativem Urteil", schrieb er im selben Jahr wie Rudner. Während Rudner verdrängt wurde, setzte sich Friedmans Irrtum durch und bis heute fort. Wenn nun Harald Oberhofer in der "Wiener Zeitung" schreibt, dass Ökonomen "den politischen Prozess nicht weltanschaulich beeinflussen sollen", hält er damit den Anschein am Leben, es gebe eine nicht-weltanschauliche Wirtschaftswissenschaft. Das ist der Kern der Illusion, den Jakob Kapeller in seiner Replik mit treffenden Beispielen freigelegt hat. Werte verstecken sich in den angenommenen Eigenschaften des "Homo oeconomicus" ebenso wie in den neoklassischen Schlüsselkonzepten Nutzen, Effizienz, Wohlstand oder Wachstum. Mathematische Formalisierung und kurvenreiche Lehrbücher befreien die Disziplin nicht von Werturteilen, sondern verdecken diese nur gekonnt.
Ein Team rund um den Psychologen Tim Kasser hat das neoklassische Weltbild analysiert und dabei fünf Kernwerte identifiziert: Eigennutzenmaximierung, Wettbewerbsorientierung, Fokus auf finanzielle Ziele, Materialismus und Wachstum. Drei Dinge fallen auf. Erstens: Die Neoklassik ist selbst ein manifestes Wertesystem. Zweitens: Andere, nichtkapitalistische Vorstellungen von Wirtschaft werden vom wissenschaftlichen Mainstream als "normativ" angegriffen - im vermeintlichen Gegensatz zur eigenen "objektiven" Arbeitsweise. So wird "Wertfreiheit" zur politischen Waffe. Drittens: Das neoklassische Ethos hat mit demokratischen Verfassungswerten nichts gemein. Diese reichen von Menschenwürde und Solidarität über Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit bis Demokratie und Gemeinwohl.
Wer das eigene Wertesystem nicht transparent macht, ist nicht nur unwissenschaftlich, sondern macht sich der Ideologie verdächtig. Eines der Erkennungsmerkmale von Ideologien ist Rechtfertigung (Theodor W. Adorno). Die Neoklassik legitimiert den herrschenden Kapitalismus wie kaum eine andere Theorieschule. Obwohl ihr theoretischer Kern die Gleichgewichtstheorie ist, befördert sie in der Realität Ungleichgewichte aller Art: von der Ökologie über Welthandel und Finanzmärkte bis zu Verteilung und Geschlechtern. Einer selbstreflexiven Wissenschaft, die sich ihrer eigenen Normativität bewusst ist, dürfte so etwas nicht passieren - sie müsste in der ökonomischen Bildung mit der Offenlegung ihres Wertesystems beginnen.