Die Forderung nach Legalisierung der Lebensbeendigung auf Wunsch basiert meist auf dem Argument, dass niemandem das Recht auf ein selbstbestimmtes, würdiges Lebensende verwehrt werden könne - das Thema spaltet.
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Warum gibt es kein Recht auf einen würdigen Tod? So lautet eine in vielen europäischen Ländern mit zunehmendem Nachdruck geäußerte Frage. Die Forderung nach Legalisierung der Lebensbeendigung auf Wunsch, ausgeführt durch ärztliche oder sonstige professionelle Hand, geschieht meist mit dem Argument, dass niemandem das Recht auf ein selbstbestimmtes und würdiges Lebensende verwehrt werden könne. Der Wunsch ist im Falle schweren Leides wohl menschlich nachvollziehbar, stellt jedoch die bestehenden Gesetzeslagen der meisten Staaten vor eine Herausforderung grundsätzlicher Art. Es drängt sich die Frage nach dem tieferen Grund der anhaltenden Kontroverse um die Sterbehilfe auf.
Die Forderungen nach Legalisierung weisen nun in der Regel zwei charakteristische Merkmale auf. Zum Ersten geht es nicht vorrangig um eine Tötung als Freundschaftsdienst im privaten Rahmen, sondern um die Verfügbarkeit einer geeigneten institutionalisierten Form der Lebensbeendigung. Zum Zweiten werden zur Begründung Rechte auf Selbstbestimmung und auf Sicherstellung der Menschenwürde angerufen, welche die Forderungen in die Nähe grundrechtlicher Bestimmungen rücken.
Ideeller Personbegriff
Grundrechte und Verfassungen zielen auf den Schutz der Person und ihrer Würde ab, die zu achten und zu schützen Verpflichtung aller staatlichen Gewalt sei, so explizit zu lesen im deutschen Grundgesetz. "Würde" ist ursprünglich kein variabler, von natürlichen Gegebenheiten abhängiger Begriff, sondern er beruht auf einem ideellen Konzept, insbesondere der Unterscheidung von Person und Sache. Nur Personen, als "individuelles Dasein einer vernünftigen Natur" (Boëthius), stehen unter einem Gesetz und besitzen Würde, wogegen nur Sachen einen "Preis" haben können (Kant). Die Würde kommt dem Menschen unabhängig von natürlichen Eigenschaften oder Zuständen zu. Sie geht in Leid und Krankheit nicht verloren.
Das Argument des "unwürdigen" Sterbens verwendet offensichtlich nicht den Würdebegriff, der jenem ideellen Personbegriff entspricht, auf welchem Grundrechte - als ferne Erben des Naturrechts - implizit beruhen. Was mit dem "würdigen Lebensende" gemeint und nachvollziehbar ersehnt wird, ist ein "leichter Tod" in einer - den Umständen entsprechend - guten bio-psycho-sozialen Verfassung. Die Forderung nach der Legalisierung der Sterbehilfe ist bei genauem Hinsehen folglich der Wunsch nach einem staatlich-institutionell garantierten Lebensende in erträglicher Lebensqualität.
Gibt es aber neben dem die Person schützenden unveräußerlichen Recht auf Leben, Freiheit und Eigentum (Locke) als Aufgabe des Staates die Gewährleistung, nicht nur das "Glück erstreben" zu können, wie im "pursuit of happiness" der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung deklariert, sondern dieses sogar real zu erlangen? Soll die Entscheidungskompetenz darüber, was das "gute Leben" sei, die Lebensqualität, die Befriedigung aller unserer Neigungen (Kant), vom Einzelnen an den Staat übergeben werden? Würde der heutige säkulare Mensch nicht ebenso einen Well-being-Staat für sein irdisches Heil benötigen, wie ehemals der religiöse Mensch der Institution der Kirche bedurfte, zur Sicherstellung seines Seelenheils?
Lebensglück und Wohlstand
Die Vorstellung, dass die Versorgung der Menschen mit Lebensglück und Wohlstand die wesentliche Staatsaufgabe sei, entsteht in genau jenen Epochen, in denen die Bedeutung von Religion und Kirche schwand, beginnend im Absolutismus und mit einem Höhepunkt in der Französischen Revolution. "Das Glück ist ein neuer Gedanke in Europa!", bekräftigte 1794 der junge Revolutionär Louis Antoine de Saint-Just in einer Rede vor dem Konvent: "Europa soll erfahren, dass ihr auf französischem Territorium weder einen Unglücklichen noch einen Unterdrücker mehr sehen wollt. . ." Das "allgemeine Glück", le bonheur commun, wird im Entwurf zur französischen Verfassung von 1793 zum ersten Ziel der Gesellschaft.
Exakt in diesen Jahren widmete sich Wilhelm von Humboldt "Ideen über die Staatsverfassung, durch die neue französische Konstitution veranlasst". Angeregt durch die totalitär anmutenden Staats- und Verwaltungsideen des Absolutismus und der Aufklärungszeit (man denke an die Policeywissenschaften), stellte er sich die Frage, welche Grenzen dem Staatsinhalt zu ziehen wären, um eine gedeihliche Entwicklung der menschlichen Fähigkeiten zu erreichen. Er kommt zum Schluss, dass die Vorstellung vom guten Leben, bei ihm als "positives Wohl" bezeichnet, nicht in die Sorgfaltspflicht des Staates fallen dürfe. Dieser solle sich im Wesentlichen auf das "negative Wohl", also die innere und äußere Sicherheit und Rechtsstaatlichkeit, die den Menschen die Rahmenbedingungen für die harmonische Entfaltung ihrer Kräfte gewährleistet, beschränken. Anderenfalls drohe Fremdbestimmung statt individueller Freiheit, denn "das Prinzip, dass die Regierung für das Glück und Wohl, das physische und moralische der Nation sorgen müsse, sei der ärgste und drückendste Despotismus".
Trifft die ablehnende Schlussfolgerung von Humboldts in analoger Weise auf die Gestaltung des Lebensendes zu? Würde auch hier die "Sorgfalt des Staates" für das positive Wohl zu einer Fremdbestimmung am Lebensende führen, indem der Staat durch seine Institutionen soziale Normen vom "guten Sterben" etablierte, welchen sich der Einzelne in praxi nur mehr schwer entziehen könnte?
Umdeutung des Würdebegriffs
Der Blick zu den von liberalen Bestimmungen am Lebensende geprägten Niederlanden scheint diese Befürchtung empirisch eher zu stützen als zu widerlegen. Obwohl der Wunsch nach Selbstbestimmung Ausgangspunkt ist, wird die Entscheidung dennoch an professionelle Einrichtungen abgegeben, die ihrerseits notwendigerweise fachlich und gesellschaftlich anerkannte Regeln für den Umgang mit Sterbewünschen wahren müssen. Die institutionalisierten Entscheidungen erfüllen somit in vielen Fällen nicht die subjektiven Erwartungen des Menschen am Lebensende. Einem beträchtlichen Teil der dezidierten Sterbewünsche wird nicht Folge geleistet, zudem finden mit dem Argument der Fürsorge nicht selten Lebensbeendigungen auch ohne klare Willensäußerung statt.
Die beschriebene Umdeutung des Würdebegriffs geschieht vor dem Hintergrund eines tiefgreifenden Wandels der europäischen Gesellschaften, der in der Zeit des Absolutismus mit dem Bemühen um ein neues Staats- und Rechtsverständnis eingeleitet wurde und zur Entstehung der großen Kodifikationen führte. Doch dieser Eindruck zunehmender Verrechtlichung des Staates und des Regierens könnte täuschen, folgt man den Analysen Michel Foucaults: "Das große Problem der abendländischen Gesellschaften vom Mittelalter bis ins 18. Jahrhundert war das Recht, das Gesetz, die legitime und gesetzliche Herrschaft. In all den politischen Kämpfen, die Europa bis ins 19. Jahrhundert erschütterten, bemühte man sich, eine Gesellschaft des Rechts zu schaffen und die Rechte des Einzelnen zu sichern. Und genau in dem Moment als man glaubte, als z.B. die französischen Revolutionäre glaubten, eine Gesellschaft des Rechts verwirklicht zu haben, da geschah etwas anderes: etwas, das zum Eintritt in eine Gesellschaft der Norm, der Gesundheit, der Medizin, der Normalisierung führte, welche jetzt die wesentliche Funktionsweise ist."
Zwei Kulturen im Kampf
In den Tiefenschichten der modernen Gesellschaft liegen seitdem zwei Kulturen miteinander im Kampf: Die von einem ideellen Person- und Würdebegriff getragene Rechtskultur steht im Konflikt mit einer normalisierenden Lebensqualitätskultur, welche auf einer rein naturalistischen Selbstauslegung des Menschen beruht und deren vorrangiges Bestreben es ist, "keinen Unglücklichen mehr zu sehen".
Das Unglück und die Unglücklichen gesellschaftlich-technisch abschaffen zu wollen, ist dennoch ein utopisches Unterfangen, dessen Fundament die Leugnung der conditio humana, der menschlichen Endlichkeit ist und das ohne rechtsstaatliche Grenzziehungen Gefahr läuft, in eine Well-being-Dystopie zu münden. Im Wunschbild einer totalen bio-psycho-sozialen Verfügbarkeit konstituiert sich der Mensch nicht als Person mit Würde, sondern verdinglicht sich selbst bis hin zur Sache.
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