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Belarus fördert neuerdings die lange vernachlässigte weißrussische Sprache und Kultur. Lukaschenko setzt damit ein geopolitisches Statement.
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Minsk. Es ist an sich nur ein Buchstabe: "U" steht da auf einem kleinen Gebäude inmitten der weißrussischen Hauptstadt Minsk geschrieben, ein kyrillisches U, das für Mitteleuropäer, die an die lateinische Schrift gewöhnt sind, einem Ypsilon gleicht. Gleichen würde - wäre da nicht noch ein Häckchen über dem U. Dieses "U korotkoje", wie man den Buchstaben nennt, kommt bei den kirgisischen Dunganen und bei den Yupik auf der ostsibirischen Tschuktschen-Halbinsel vor - und eben in Europa, in der weißrussischen Sprache.
Der Buchstabe ist Programm: In dem einstöckigen Gebäude mit dem "U korotkoje", das sich bescheiden in einem Hinterhof hinter den triumphalen Stalinbauten des "Platz des Sieges" versteckt hält, spricht man weißrussisch. Wenigstens offiziell und ab und zu, denn auch in dem Kulturzentrum, das ein gemütliches Café, ein Buchgeschäft und eine Galerie beherbergt, dominiert als Umgangssprache der Gäste meist die Lingua franca in Weißrussland - das Russische. "Wir wissen schon, dass es so ist", sagt Anna Christoserdova, die künstlerische Leiterin der Galerie. "Aber wir haben das belarussische U ganz bewusst gewählt - als Symbol unserer Sprache und Kultur", sagt die knapp über 30-Jährige.
"Natürlich haben wir mit unserer Entscheidung für das Weißrussische Probleme. Dass unsere Homepage ygallery.by nur auf Weißrussisch verfügbar ist, erleichtert nicht gerade den Kontakt zu unseren ausländischen Partnern", meint die quirlige Minskerin. Nationalistin will sie aber keine sein. "Eine russischsprachige Dame hat uns einmal so bezeichnet. Dabei wollen wir doch nur unsere Sprache sprechen."
Kein weißrussischer Stadtplan
Dass in Weißrussland weißrussisch gesprochen wird, ist tatsächlich nicht ganz selbstverständlich. Zwar bezeichnen sich bei offiziellen Befragungen 81 Prozent der Bevölkerung als Weißrussen und nur vergleichsweise bescheidene 10 Prozent als Russen. Über die Sprachpräferenz der Befragten sagt das aber gar nichts aus: "Nur rund 30 bis 40 Prozent der Staatsbürger bezeichnen Weißrussisch als ihre Muttersprache", meint Sjarhei, ein Jungakademiker aus Minsk. "Und nicht einmal die sprechen die Sprache jeden Tag. So sieben bis 10 Prozent der Bevölkerung dürften laut Schätzungen tatsächlich weißrussisch sprechen", meint der Biologe, der, obwohl russischer Herkunft, bereits als Jugendlicher den Sticker "Sprich weißrussisch zu mir!" an der Jacke getragen hat.
"Im Studium war das nicht immer vorteilhaft. Sprichst du weißrussisch, hieß es früher: Du kommst entweder aus dem Dorf oder sympathisierst mit der Opposition", sagt Sjarhei über die Verhältnisse in dem von Präsident Alexander Lukaschenko autoritär regierten Land. "Das hat sich in letzter Zeit verbessert. Immer mehr Junge sprechen die Sprache. Vor ein paar Jahren noch war das anders: Ich war auf meinem Uni-Institut der Einzige, der weißrussisch gesprochen hat."
Wie selbstverständlich vor allem in den großen Städten das Russische vor der Nationalsprache dominiert, zeigt der Umstand, dass es bis heute keinen Stadtplan der Hauptstadt Minsk in weißrussischer Sprache zu kaufen gibt. Und das, obwohl die Straßennamen an den Häusern der Stadt weißrussisch angeschrieben sind. Besonders ausländische Besucher, die dazu meist auch noch Probleme mit dem Kyrillischen haben, dürften gröbere Orientierungsprobleme bekommen, wenn sich beispielsweise die mühsam entzifferte russische "Oktjabrskaja", die Straße des Oktober, an der Häuserfront als weißrussische "Kastrytschnitzkaja" entpuppt.
Dass das Russische in Belarus derart stark dominiert, hat Gründe. Nur wenige Länder in Europa hadern mit ihrer nationalen Identität derart wie die Weißrussen. Das Land war vor 1991, vor dem Zerfall der Sowjetunion, kaum jemals unabhängig. Es war stets Zankapfel zwischen Ost und West, zwischen Polen-Litauen und Moskau - ähnlich wie die benachbarte Ukraine. Doch die verfügt zumindest über kraftvolle nationale Mythen - wie etwa die Erzählungen von den freien, unbestimmt "demokratischen" Kosaken, deren Hetmanat sich dem Einfluss der Moskauer Zaren entzog.
Weißrussland hat keine Kosaken, keine so starken Mythen aufzubieten. Dem zwischen Ost und West zerriebenen Land fehlt eine einigende Erzählung. Aber Belarus hat seine Sprache. Und die ist zwar mit keinem Staat, der sich "Weißrussland" nannte, wohl aber mit der alten Großmacht Litauen verknüpft. Es war das Ruthenische, eine Vorform des Weißrussischen, das Kanzlei- und Verkehrssprache im Großfürstentum Litauen war. Weißrussische Patrioten leiten daraus auch einen politischen Auftrag ab. "Die Nachfahren der alten Litauer, das sind gar nicht die heutigen Litauer. Das sind wir", sagt der Nationalist Ales Masanik. Er versucht in etwas missionarischem Stil, bei einer Buchmesse Käufer für seine Bücher über die "wahre" Geschichte Weißrusslands zu finden. Moskau, der Rivale des alten Litauen, kommt dabei denkbar schlecht weg.
Sowjetisch geprägt
Doch die Zeit des litauischen Großfürstentums, als eine zunächst heidnische Führungsschicht ein orthodox geprägtes Land regierte, bevor sie sich für den westlichen Katholizismus entschied, ist längst vergangen. In den langen Jahren russischer und sowjetischer Herrschaft wurde Weißrussland gründlich russifiziert. Das heutige Belarus ist immer noch ein zutiefst sowjetisch geprägtes Land: Es waren die Sowjets, die dem lange bitterarmen Land nach dem verheerenden Krieg einen bescheidenen Wohlstand ermöglichten. Und es waren auch die Sowjets, die die passende Erzählung dazu lieferten: Das Belarus des Alexander Lukaschenko ist bis heute das Land der heldenhaften Partisanen, die für das Wohl der Heimat bluteten und den Faschismus besiegten, das Land der stolzen Traktorenwerke und der Kolchosen und Sowchosen. Im Gegensatz zu den baltischen Staaten, die sich mit der "singenden Revolution" die Unabhängigkeit erkämpften, im Gegensatz auch zur Ukraine, die 1991 schon eine starke Nationalbewegung besaß, ist Belarus mehr in die Unabhängigkeit gestolpert. Auch vor der Wahl des Sowjetnostalgikers Lukaschenko Ende 1994 verfügte das Land nur über eine brüchige Eigenständigkeit, lehnte sich stark an Moskau an.
Lukaschenko drehte dann nach seiner Wahl 1994 das Rad der Zeit noch stärker zurück und schaffte die Staatssymbole Weißrusslands, die weiß-rot-weiße Flagge und das an Litauen erinnernde Reiterwappen Pahonja, wieder ab. Er ließ sie durch Symbole ersetzen, die an die Belarussische Sowjetrepublik erinnerten, und propagierte die Schaffung eines gemeinsamen russisch-weißrussischen Staates. Und es war Lukaschenko, der das Weißrussische, das er nur schlecht beherrscht, lange als bäuerlichen Dialekt und als Sprache der "Faschisten" verhöhnte - jener Weißrussen, die während des Krieges unter weiß-rot-weißer Flagge mit NS-Deutschland kollaborierten.
Ob der Staatschef mittlerweile bereut, dass er die alten Symbole abschaffen ließ und sie damit zu Erkennungszeichen der verfemten Opposition machte? Es sieht fast so aus. Denn in den vergangenen zwei Jahren hat sich in seiner Sprachen- und Kulturpolitik eine bemerkenswerte Umorientierung vollzogen. Seit dem Frühjahr 2014, seitdem sich Russland die Krim einverleibt hat, legt Lukaschenko deutlich mehr Wert auf belarussische Eigenständigkeit. Der Autokrat hat Angst vor einem Eingreifen des Kremls auch in Weißrussland. Viele Weißrussen konsumieren russisches TV und stimmen der Moskauer Lesart des Ukraine-Konflikts zu.
Lukaschenko fürchtet um seine Machtbasis und ist um Abgrenzung zu Russland bemüht. Partisanen, Traktoren und Kolchosen eignen sich dazu nicht wirklich. Überdies stirbt die prosowjetische Generation in Weißrussland langsam aus und wird ersetzt durch Menschen, die im unabhängigen Belarus aufgewachsen sind. Unter vielen dieser Jungen war es gerade die repressive Politik Lukaschenkos, die die weißrussische Sprache und Kultur besonders attraktiv gemacht hat. Rockgruppen hatten das Belarussische in den 1990ern popularisiert, in den Nullerjahren entwickelte sich eine äußerst lebendige alternative Kulturszene abseits der eher trostlosen Staatsideologie mit Schriftstellern, Verlegern und Künstlern.
"Weiche Weißrussifizierung"
Es ist dieses lange von ihm offen verachtete neue Belarus, an das Lukaschenko nun Anschluss zu finden versucht. Er nennt seine neue Politik "weiche Belarussifizierung". Weißrussisch-Kurse werden nun nicht mehr behindert, eher gefördert. Sie erfreuen sich breiter Popularität. Auch politisch setzt Lukaschenko Signale: In Witebsk wurde ein Denkmal für einen litauischen Großfürsten, der gegen Moskau militärische Erfolge erzielte, eingeweiht.
Dass die neue Liebe des Autokraten zur weißrussischen Sprache und Kultur politische Freiheiten mit sich bringen könnte, glaubt aber kaum jemand in Belarus. Denn Lukaschenko dürfte Angst vor zu viel Spielraum für die Kulturszene haben - weil diese seine Feinde von der Opposition stärken könnte. Das weiß auch Ihar Lohwinau. Der Literaturverlag des regimekritischen Buchhändlers wurde 2013 geschlossen. Und im Vorjahr musste er 58.000 Euro Strafe zahlen. Der Grund: Er hatte keine Lizenz, einen Buchladen zu führen. Sie war ihm mehrfach unter fadenscheinigen Vorwänden verweigert worden.