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Wettrüsten im Weltraum

Von Christian Pinter

Wissen

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John Glenn beim mühsamen Einstieg in die Mercury-Kapsel, mit welcher er 1962 als erster Amerikaner in die Erdumlaufbahn gelangte. Da die Kapsel keinen externen Versorgungsteil hatte, mussten Tanks und Batterien in der Pilotenkabine Platz finden. Man fliege diese Maschine nicht, witzelten die US-Astronauten damals,
© Foto © Nasa

20. Februar 1962: Zehnmal hat die NASA den Start ihrer dritten bemannten Mercury-Kapsel schon verschoben. Für die Sowjetunion schafften im Jahr zuvor zwei Männer den Aufstieg in den Orbit: Juri Gagarin und German Titow. Die USA haben bloß zwei ballistische Missionen von je einer Viertelstunde Dauer unternommen: Sie schossen die Astronauten Alan Shepard und Virgil Grissom in die Höhe und ließen sie sofort wieder aus dem All herunter stürzen.

Jetzt aber will man zur "roten Konkurrenz" aufschließen und ebenfalls den Sprung in eine wirkliche Erdumlaufbahn wagen. Jetpilot John Glenn, geboren am 18. Juli 1921 in Ohio, steckt zunächst den linken Fuß in sein Raumschiff. Dann quetscht er, nach und nach, den ganzen Körper unter der Instrumententafel durch. Schließlich kommt er mit angewinkelten Beinen im Schalensitz zu liegen, am Boden des höchstens 1,9 Meter breiten, kegelförmigen Gefährts. Sein Helm berührt fast die Wand. Die Mercury-Kapsel kennt keinen externen Versorgungsteil. Tanks und Batterien müssen direkt in der Pilotenkabine Platz finden. Man fliegt diese Maschine nicht, witzeln die US-Astronauten, "man zieht sie an".

Unter Glenns Rücken ragt eine modifizierte Atlas-Rakete 20 Meter hoch auf. Sie wurde von der US-Luftwaffe eigentlich zum Transport todbringender Atomsprengköpfe entwickelt. Kurz bevor ihre fünf Triebwerke losdonnern, ruft man noch "Viel Glück, John Glenn!" ins Mikrofon. Dann stürmt die Atlas Richtung Himmel. Der Passagier wird mit dem sechsfachen Körpergewicht in den Sitz gedrückt.

Fünf Minuten nach dem Abheben ist es plötzlich still. Mit dem Brennschluss der Triebwerke fällt auch sämtliche Last von Glenn ab, er wird schwerelos. Die Erdumlaufbahn ist erreicht - und damit das eigentliche Ziel des Mercury-Programms. "Dieser Blick ist überwältigend!", berichtet John, als weiße Wolken rund 200 Kilometer unter ihm im Sonnenlicht "baden". Über Nordafrika macht er Staubstürme aus und den Rauch von Buschbränden. Über dem Indischen Ozean fällt die grellweiße Sonne wie im Zeitraffer unter den Westhorizont: Die anschließende, kurze Dämmerung gerät zum "wundervollen Schauspiel in sehr lebhaften Farben": unten orange, dann rot und purpur, oben hell- und dunkelblau. Darüber erstreckt sich der schwarze Weltraum. Jenseits der Erdatmosphäre haben die Sterne zu funkeln vergessen.

Noch gibt es keine direkte Verbindung zur Flugkontrolle. Da Glenn mit 28.000 km/h unterwegs ist, reißt sein Kontakt nach spätestens acht Minuten wieder ab. Dann muss er sich bei der nächsten Bodenstation anmelden. Die leitet sämtliche Daten per Fernschreiber in die USA weiter. Immer wieder gibt John den Status der Treibstoff- und Sauerstofftanks durch, auch den Ladezustand der Batterien. Dazwischen misst er seinen Blutdruck, absolviert Sehtests, schüttelt den Kopf und schildert sein Befinden. Es bleibt, diversen Befürchtungen zum Trotz, hervorragend.

Im Osten wie im Westen setzte man bei der Astronautenauswahl auf erfahrene Militärpiloten: Hier die Mercury-Astronauten vor einem Militärjet, darunter Carpenter, Glenn und Schirra (1., 3., 5. von links).
© © NASA

Ein recht kurzfristig anberaumtes Telefonat mit Präsident Kennedy wird wieder abgesagt. In der Flugleitung herrscht helle Aufregung. Wie ein Funksignal anzeigt, hätte sich der Hitzeschild am stumpfen Ende der Kapsel gelockert. Wenn das stimmt, könnte er beim Wiedereintritt in die Erdatmosphäre wegbrechen. Glenn würde verglühen. Man fragt den Piloten geheimnisvoll, ob er vielleicht ein "klopfendes Geräusch" oder "irgendetwas herumschlagen" hört. Er verneint.

Drei Metallbänder halten den Bremsraketensatz über dem Hitzeschild fest. Die kleinen Raketen müssen nach getaner Arbeit eigentlich abgesprengt werden, damit ja nichts den Schutz verdeckt. Jetzt überlegt man aber, Raketen und Bänder am Platz zu belassen; sie sollen den Schild fixieren. Doch niemand weiß, ob dieser Trick den Hitzeschutz nicht erst recht gefährdet.

Falscher Alarm

Glenn macht sich ob der seltsamen Fragen Gedanken. Wirklich informiert wird er erst in den letzten Flugminuten. Kurz vor Ende der dritten Erdumkreisung zündet er die Bremsraketen. Sie feuern im Abstand von jeweils fünf Sekunden los. Um 550 km/h verlangsamt, taucht seine Mercury in die Atmosphäre ein. Die Luft sorgt für weitere Abbremsung, erhitzt sich dabei allerdings auf 5300 Grad Celsius. In der Mitte einer roten Feuerkugel reitet Glenn über Texas. Trümmer schießen an seinem Fenster vorbei. Wie er mutmaßt, sind das schon Teile des Hitzeschilds! Er wartet darauf, die todbringende Glut zunächst am Rücken zu spüren. Doch er hat zum Glück nur abgeschmolzene Fragmente der Bremsraketen gesehen; der Schutzschild selbst hält. Das böse Signal entpuppt sich als Fehlalarm. Nach fast fünfstündigem Flug plumpst die Mercury wohlbehalten in den Atlantik.

Nach den Paraden in New York und Washington diniert Glenn mit der Präsidentenfamilie. Er erhält hunderttausende Glückwunschtelegramme und Briefe. Die US-Amerikaner identifizieren sich mit ihrem Helden.

Schon am 24. Mai wiederholt der 37-jährige Malcolm Scott Carpenter den erfolgreichen Orbitalflug Glenns. Auch er bewundert die Erde durch Fenster und Sehrohr: Stets sei das Blickfeld "mit Schönheit ausgefüllt", schwärmt er. Alles flöße ihm Ehrfurcht ein. Durch Wolkenlücken erspäht er Seen und Flüsse. Allerdings muss Carpenter auch eine lange Liste von Experimenten abarbeiten. Er untersucht das Verhalten von Flüssigkeiten in der Schwerelosigkeit, misst den Glanz der Sonne und heller Fixsterne und schießt Fotos von der Erdoberfläche.

Vor allem der Horizont hat es den Raumfahrttechnikern angetan. Sie wollen ihn als Navigationshilfe bei künftigen Mondflügen nützen. Spezielle Infrarotsensoren erkennen bereits die Grenze zwischen dem warmen Erdkörper und dem eiskalten All und steuern so die Lage der Kapsel mit. Dieses automatische System dreht das Schiff um alle drei Achsen, indem es Wasserstoffsuperoxid aus zwölf kleinen Düsen ins All entlässt. Allerdings arbeitet es fehlerhaft. Die Lageanzeigen am Instrumentenbrett stimmen nicht mit dem Anblick des Erdhorizonts überein. Carpenter kann die Kapsel auch manuell, also per Handsteuerung, herum stoßen. Er muss dies sogar öfter tun, um seine vielen Beobachtungsaufgaben zu meistern. Der Treibstoff beider Lageregelungssysteme erschöpft sich rapide.

Mit einem kombinierten Himmels- und Erdglobus bereitet sich John Glenn auf sein Weltraum-Abenteuer vor.
© Foto: © NASA

Die Flugleitung in Houston bangt abermals um das Leben ihres Astronauten. Ist der Treibstoff aufgebraucht, lässt sich die Raumlage der Kapsel beim Abstieg nicht mehr kontrollieren. Die Mercury muss dann aber unbedingt mit dem stumpfen Kegelende in Flugrichtung weisen. Carpenter ist auf den letzten Reserven, als er die Heimreise antritt.

Die Bremsraketen zünden drei Sekunden zu spät. Allein ihr Schub verändert die Kapsellage schon wieder. Dabei darf die Mercury beim folgenden Höllenritt nicht einmal stark "nicken", sonst würde das erhitzte Atmosphärengas die Seitenwände versengen. Der Pilot tut sein Bestes, doch seine Stimme klingt bedrückt. Das obere, schlanke Kapselende trägt den Fallschirmbehälter. Ausgerechnet dort nimmt Carpenter ein Glühen wahr, das nichts Gutes verheißt. Minuten später breitet sich der Schirm dennoch sicher und wie ein "Baldachin" über ihm aus.

Das knapp fünf Stunden währende Weltraumabenteuer ist für Carpenter rasch verflogen, die Zeit schien ihm seltsam "zusammengestaucht". Da er rund 400 Kilometer übers Ziel hinaus geschossen ist, muss er im Schlauchboot auf die Bergungsmannschaft warten. Sein sehnlicher Wunsch, so bald wie möglich wieder ins All zu kommen, wird ihm nicht erfüllt.

Die Russen sind nach German Titows 25-stündigem Rekordflug von 1961 irritiert. Die Schwerelosigkeit hatte dem Piloten arg zugesetzt, bei ihm eine Art "kosmischer Seekrankheit" bewirkt. Sie könnte jeden längeren Aufenthalt im All zum unkalkulierbaren Risiko machen. Tritt diese Weltraumkrankheit zwangsweise auf, oder ist sie bloß ein Problem bestimmter Kosmonauten?

Russen-Rakete crasht

Um das zu klären, möchte man zwei Raumfahrer in getrennten Kapseln auf sehr ähnliche Flugbahnen bringen und dann deren Reaktionen vergleichen. Chefkonstrukteur Sergej Koroljow strebt eine Missionsdauer von mindestens drei Tagen an. Nikolai Kamanin, der Leiter des Kosmonautentrainings, will sicherheitshalber eine kürzere Tour. Der Kreml soll entscheiden. Doch der hat im Augenblick Anderes im Sinn: Die russische Wostok-Kapsel ist ursprünglich als unbemannte Spionagemaschine konzipiert worden, vollgestopft mit Kameras. Der Start dieser automatischen "Zenit-Satelliten" genießt Vorrang - am 26. April 1962 gelingt er erstmals.

Beim nächsten Zenit-Start im Juni explodiert jedoch die Trägerrakete und beschädigt die Startrampe in Baikonur. Kaum ist diese wieder repariert, zünden die USA eine Atombombe, 400 Kilometer hoch über dem Pazifik. Im erdnahen Weltraum entstehen dabei Strahlungsgürtel, die eine zusätzliche Gefahr für Mensch und Maschine darstellen.

So kommt es, dass der russische Jagdflieger Andrijan Nikolajew erst am 11. August ins All entsandt wird. Seine Kapsel Wostok-3 hebt an der Spitze einer modifizierten, atomwaffenfähigen Langstreckenrakete vom Typ R7 ab. Erstmals liefert eine TV-Kamera nun Live-Aufnahmen aus dem Orbit. Nikolajew mustert die Erdoberfläche und dreht sein Schiff dazu per Handsteuerung in die passende Lage. Nur 24 Stunden später jagt man den Militärflieger Pawel Popowitsch hinterher.

Seine Wostok-4 treibt bis auf rund fünf Kilometer an das Schwesterschiff heran. Die beiden Piloten haben direkten Funk- und Sichtkontakt. Ihr Gruppenflug gerät zur Sensation. Wie Moskau stolz verkündet, beweise er auch die hohe Zielgenauigkeit sowjetischer Raketen.

Die Weltraumfachleute in Ost und West wissen jedenfalls: Wer Raumstationen bauen oder auf dem Mond landen will, muss Fahrzeuge im Orbit zusammenführen und aneinander koppeln. Der sowjetische Gruppenflug ist somit ein erster Schritt in diese Richtung. Die NASA ist davon noch Jahre entfernt!

Die 2,3 Meter weiten, kugelförmigen Wostoks bieten deutlich mehr Platz als die amerikanischen Mercurys. Daher dürfen Nikolajew und Popowitsch sogar die Gurten lösen, während ihre Kapseln langsam auseinander driften. Die Kosmonauten schweben nun frei in ihren Schiffen. Sensoren überwachen die Körperfunktionen, Kameras und Mikrofone halten Gesichtsausdruck und Tonfall fest.

Sogar beim Schlafen lässt man die Piloten nicht aus den Augen. Wieder erwacht, müssen sie Prüfungsaufgaben lösen. Die Weltraummediziner interessieren sich vor allem für das Orientierungsvermögen der Kosmonauten und das Funktionieren des Gleichgewichtsorgans im Innenohr. Bei keinem der beiden Flieger treten gesundheitliche Probleme auf.

Nikolajew ist jetzt schon fast vier Tage im All, und hat damit einen neuen Rekord aufgestellt. Die letzte seiner 64 Erdumkreisungen nähert sich dem Ende. Popowitsch zählt den 48. Umlauf und soll noch einen ganzen Tag aushalten. Die Kabinentemperatur seiner Wostok-4 fällt auf zehn Grad; nur der Raumanzug liefert noch die vertraute Wärme. Über dem Golf von Mexiko sieht und meldet Popowitsch ein "Gewitter".

Dieses geheime Codewort ist aber für den Fall einer plötzlich einsetzenden Weltraumkrankheit reserviert worden. Also bricht man die Mission vorzeitig ab. Beide Wostoks fallen herunter; jede hüllt sich in einen Feuerball. Nikolajew nimmt ein prasselndes Geräusch wahr, vermutet das Abbröckeln jener Schutzschicht, die seine Stahlkugel vor dem Inferno bewahrt. Doch der Asbestmantel hält.

Kosmonauten auf Tour

Weil die Wostoks mit mehr als 30 km/h in Kasachstan aufschlagen werden, schleudert man die Piloten planmäßig mitsamt ihren Sitzen ins Freie. Sie landen an Fallschirmen, ein paar hundert Kilometer von Karaganda entfernt. Moskau vermeldet die fast gleichzeitig erfolgte Landung als weitere Glanzleistung. Man feiert und schickt die Kosmonauten auf Tour, bis nach Indonesien und Kuba.

Einstweilen bereitet sich die NASA auf ihren dritten bemannten Orbitalflug vor. Walter Schirra ist - wie Glenn und Carpenter - Jetpilot mit reichlich Erfahrung aus dem Koreakrieg. Am 3. Oktober 1962 legt er mit seiner Mercury einen wahren Bilderbuchflug von mehr als neun Stunden Dauer hin. Sechsmal schießt er um den ganzen Globus, um schlussendlich nur sieben Kilometer neben dem Bergungsschiff zu wassern.

Drei Wochen später, während der Kubakrise, entrinnt die Welt nur knapp einem Nuklearkrieg. Die US-Amerikaner halten jetzt bei 20 Flugstunden im All; das ist weniger, als allein German Titow ein Jahr zuvor geschafft hat. Noch immer hinken sie den Sowjets hinterher. Doch wenigstens haben sie nunmehr Selbstvertrauen getankt.

Die Bürger Ohios wählen John Glenn in späteren Jahren mehrmals in den US-Senat. 1998 kommt er, 77-jährig, nochmals ins All; diesmal an Bord des Space Shuttles Discovery. Malcolm Scott Carpenter verlässt die NASA und wendet sich dem Ozean zu. Unter anderem werkt er 30 Tage lang in der Unterwasserstation Sealab-II. Mercury-Pilot Walter Schirra kommandiert 1968 den ersten Apollo-Flug in die Erdumlaufbahn.

Andrijan Nikolajew stellt 1970 abermals einen Langzeitrekord im All auf. Er harrt 17 Tage und 17 Stunden an Bord des Raumschiffs Sojus-9 aus. Pawel Popowitsch hat für das sowjetische Mondlandeprogramm trainiert, das letztlich aber gestrichen wird. 1974 dockt seine Sojus-14 an die kleine Raumstation Saljut-3 an - und arbeitet dort zwei Wochen lang.

Fortsetzung auf Seite 2

Christian Pinter, geboren 1959, lebt als Fachjournalist in Wien und schreibt seit 1991 über astronomische Themen im "extra". Website: www.himmelszelt.at

Website NASA