Die österreichische Bundesregierung stellt sich aktuell mindestens dreifach gegen den EU-Konsens.
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In Pete Seegers Song "Which Side Are You On?" geht es um amerikanische Arbeitskämpfe aus der Vorkriegszeit. Das Lied wurde aber auch von der Bürgerrechtsbewegung in den 1960er und 1970er Jahren immer wieder gesungen, mit der Aufforderung, sich auf die je "richtige" Seite zu stellen.
Heute ist es aktueller denn je. Die österreichische Bundesregierung stellt sich aktuell mindestens dreifach gegen den EU-Konsens beziehungsweise gegen die Mehrheitsmeinung der EU-Mitglieder und der EU-Kommission.
Erstens: Am Tag eines Treffens der EU-Spitze (Ratspräsident, Kommissionspräsident und EU-Vorsitz) mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan in Varna verkündet der Bundeskanzler einmal mehr seine (einsame) Forderung nach Abbruch der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei, eine veritable Watsche.
Zweitens: Österreich weigert sich, im Gegensatz zu 17 anderen EU-Mitgliedstaaten, den neuen Sanktionen gegen Russland als Folge des Giftanschlags gegen einen Ex-Spion in England zu folgen. Das Argument der Außenministerin: Der Bundeskanzler und sie hätten beschlossen, dass es wichtig sei, die Gesprächsbasis mit Russland aufrechtzuerhalten. Dafür mag es ja gute Gründe geben, klar aber ist, dass sich damit Österreich einmal mehr gegen die Mehrheitsmeinung in der EU stellt. Es müsste zumindest eine öffentliche Debatte über die Güterabwägung - Brücke zwischen EU und Russland hier, Solidarität da - geben.
Drittens: Schon weit im Vorfeld der Verhandlungen über den EU-Finanzrahmen für die Jahre 2022 bis 2029 verkündet Österreichs politische Spitze lauthals, dass das Land keinen Euro mehr ins EU-Budget einzahlen werde, trotz Ausfalls von etwa 12 Prozent des EU-Budgets durch den Brexit. Dennoch beharrt man öffentlich darauf, dass auch weiterhin die Rückflüsse an Österreich (vor allem die Landwirtschaft ist hier lautstark) keinesfalls zurückgehen dürften. Dies mag ja als Verhandlungsposition am Anfang taktisch argumentierbar sein, müsste aber über eine Justamentposition weit hinausgehen und mit konkreten Vorschlägen unterlegt werden, wie diese Quadratur des Kreises zu überwinden wäre. Auch hier bleibt Österreich vieles schuldig.
Wenn dies alles Teil einer überlegten mittel- bis langfristigen Strategie wäre, könnte man ja darüber reden. Wie dies alles mit den vollmundigen Ankündigungen, was Österreich denn alles in seiner sich über das zweite Halbjahr 2018 erstreckenden EU-Präsidentschaft erreichen möchte, vereinbar ist, wenn man die wichtigsten EU-Partner vergrault, bleibt schleierhaft. Ebenso, wie dies mit der zu Beginn der Legislaturperiode lauthals verkündeten "Europafreundlichkeit" der Regierung vereinbar ist. Eher scheint es, dass sich hier immer wieder der kleinere Regierungspartner durchsetzt - zum Schaden der Österreicherinnen und Österreicher.