Zum Hauptinhalt springen

Wider die "Kaffeehausliteratur"

Von Walter Schübler

Reflexionen
"Laß Kleinstädter wider Willen zu Weltstädtern arrivieren und es wird der Kaffeehauswiener herauskommen!" - Anton Kuh.
© Getty Images

Sie ist ein fixer Bestandteil der Wiener Folklore, obwohl die Bezeichnung "Kaffeehausliterat" eigentlich eine Schmähung darstellt. Eine Polemik.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 5 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

"Du hast Sorgen, sei es diese, sei es jene - - - ins Kaffeehaus!

Sie kann, aus irgendeinem, wenn auch noch so plausiblen Grunde, nicht zu dir kommen - - - ins Kaffeehaus!

Du hast zerrissene Stiefel - - - Kaffeehaus!

Du hast 400 Kronen Gehalt und gibst 500 aus - - - Kaffeehaus!

Du bist korrekt sparsam und gönnst dir nichts - - - Kaffeehaus!

Du bist Beamter und wärest gern Arzt geworden - - - Kaffeehaus!

Du findest keine, die dir paßt - - - Kaffeehaus!

Du stehst innerlich vor dem Selbstmord - - - Kaffeehaus!

Du haßt und verachtest die Menschen und kannst sie dennoch nicht missen - - - Kaffeehaus!

Man kreditiert dir nirgends mehr - - - Kaffeehaus!"

Das Kaffeehaus als Remedium gegen alle Widrigkeiten des Alltags: Peter Altenbergs Hymne auf das Kaffeehaus datiert aus dem Jahr 1918 - und was machte der hiesige "Kultursender", was machte Ö1 im Jahr 2010, als es darum ging, die Döblinger, Hietzinger und Josefstädter Regimenter zu befrieden, die gegen eine sonntagvormittägliche Satire-Sendung, welche nach dem Wunsch des Programmchefs, "den Weihevormittag doch ein bisschen aufmischen" sollte, derart massiert angeritten waren, dass die Server des ORF unter dem Ansturm der Protestanrufe zusammengebrochen waren? - Richtig: - - - Kaffeehaus!

Beim kurzlebigen brachialsatirischen Wochenrückblick mit dem schönen Titel "Welt Ahoi" hatte es offenbar mehr Stammhörerinnen und Stammhörern das Hiatl obag’waht, als dem Sender lieb sein konnte.

Rosa Zuckerguss

Ersetzt wurde er folgerichtig durch das "Format" Kaffeehaus, soll heißen: eine unverbindliche und unverfängliche Plauderstunde: mit einem Oberg’scheiterl von Ober, Teller- und Tassengeklapper, mit reichlich Musikpausen, damit sich nur ja so etwas wie ein Gespräch nicht ergibt, und halbgaren Glossen drittklassiger Kabarettisten - gleichsam der akustische Gang zur Mehlspeis-Vitrine. Beim plaudrigen "Café Sonntag" - so der Titel der Sendung - bestand Gott sei Dank nicht mehr die Gefahr, dass beim Sonntagsfrühstück in den Wiener bürgerlichen Salons vor Entsetzen über die ein oder andere "Geschmacklosigkeit" das ein oder andere Bröserl vom Gugelhupf im Halse steckenblieb.

"Kaffeehaus" steht für den rosa Zuckerguss über dem mollerten Punschkrapferl, für das "innere Punschkrapferl" quasi - und es geht hier dezidiert nicht um "Außen rosa, innen braun" -, "Kaffeehaus", dieser Inbegriff Wiener Lebensart, bezeichnet einen Ort, an dem für die Misslichkeiten des Alltags kein Platz ist, einen Ort der Behaglichkeit, eine Kultstätte wohliger Selbstzufriedenheit, Gemütlichkeit, selbstgewisser Trägheit und Realitätsverweigerung.

Ein Befund, dem Alfred Polgars Feststellung gleich eingangs seiner "Theorie des Café Central" korrespondiert, dehnt man diese auf das Kaffeehaus ganz allgemein aus: "Das Café [. . .] ist [. . .] eine Weltanschauung, und zwar eine, deren innerster Inhalt es ist, die Welt nicht anzuschauen." Woher rührt überhaupt die hiesige Vorliebe fürs Kaffeehaus? Anton Kuh benennt 1926 in den "Münchner Neuesten Nachrichten" an "tieferen psychologischen Gründen für diesen Kaffeehaus-Kult der Wiener" folgende:

"Die aus der Tratschfreude und der sozusagen physiologischen Kleinstädterei stammende Unfähigkeit, Räumlichkeiten und Behausungen zu ertragen, die nicht einen intimen, überdachten Markt-Charakter haben, wo also nicht, angenehm nebelhaft und unscharf gemacht durch den Tabaksqualm, akustisch temperiert durch das Ineinandertönen von Gespräch, Tassenklappern, Kugelaufschlagen, die Einsamkeit nach Geselligkeit, die Privatheit nach Öffentlichkeit aussieht; seine Vorliebe für die komparsenhafte Miteinbeziehung der übrigen Menschheit ins Komödienspiel seines Daseins; endlich seine Liebe zu der Reibungswärme, welche sich aus jener schlampigen Beziehungslosigkeit ergibt, die nach außen wie ein Allumarmen und Allumfassen wirkt. Laß Kleinstädter wider Willen zu Weltstädtern arrivieren und es wird der Kaffeehauswiener herauskommen!"

Geringschätzung

Die Apposition "Kaffeehaus" verleiht denn auch einem Grundwort eine negative Konnotation: Will man die Geringschätzung eines Bekannten zum Ausdruck bringen, bezeichnet man ihn als Kaffeehausbekanntschaft. Aber schon der appositionslose "Literat" war im Verständnis der Hochzeit des Wiener Kaffeehauses ein Schreiber minderer Kategorie, jemand, der für den Tag schreibt, ein Schreiberling - im Gegensatz zum Dichter, der mit im Pythia-Dampf kondensierter Sprache Überzeitliches zu Papier bringt.

Im Mai 1931 echauffierte sich der aktivistische Publizist Kurt Hiller in einer Zuschrift über die Bemerkung "Die Amateure schreiben heute besser als das ganze aus dem Tintenfaß gekrochene literarische Zünftlerpack", welche Anton Kuh in seiner Besprechung von Walther Rodes markiger Justizsatire "Knöpfe und Vögel. Lesebuch für Angeklagte" fallen gelassen hatte. "Die Weltbühne" sei doch mehrfach gegen diesen "von gewissen Literaten immer wieder verübten Unfug", auf den Literaten zu schimpfen, aufgetreten.

Wenn Kurt Hiller auch von der Redaktion belehrt wurde, dass sie die "handfeste Grobheit" hier nicht als pauschale Verunglimpfung auffasse, war sie mit dem Leserbriefschreiber doch "einer Meinung über den groben Unfug, daß ein Literat den andern Literat schimpft".

Was kommt heraus, wenn "Kaffeehaus" und "Literat" vermählt werden? - ",Caféhausliterat‘ ist ein Schimpfname, den jene gebrauchen, die sich selbst als erhabene Geister unter dem freien Himmel meinen", hält Heimito von Doderer 1960 in einem "magnum"-Beitrag fest. Das ist mitnichten ein punktueller Befund. Roda Roda vermerkt 1927 in der Einleitung zu einem Rundgang durch die zentraleuropäische Kaffeehaus-Szene: "Man spricht verächtlich von ,Kaffeehausliteraten‘"; (ironischer Nachsatz: "ich rechne mich schamlos zu ihnen").

Selbstdarsteller

Ein Schwenk zurück in der Zeit: Am 31. Oktober 1918 formiert sich bei einer Versammlung auf dem Deutschmeisterplatz die Rote Garde, eine linksradikale bewaffnete Truppe von zunächst 200 Mann, deren Kommando Egon Erwin Kisch zeitweise innehat. Unter dem Titel: "Die Wiener ,Rote Garde‘. Eine Gründung der Prager Kaffeehausliteraten" veröffentlicht Georg Bittner, Chefredakteur des "Neuen 8 Uhr Blatts", am 16. November 1918 eine Polemik gegen Kisch, Franz Werfel, Franz Blei und Albert Paris-Gütersloh.

Dass zwei der Genannten, Kisch und Werfel, aus dem "Schmockkästchen" der Monarchie, eben Prag, stammen, reibt ihnen Bittner gleich eingangs seiner Streitschrift unter die Nase. Bei einer Gerichtsverhandlung im März 1920 - Franz Blei hatte eine Klage auf Ehrenbeleidigung angestrengt - präzisiert Bittner, was er unter "Kaffeehausliteraten" verstehe: eitle, weltfremde, verantwortungslose Selbstdarsteller und Wirrköpfe.

Um 1930 geht die Invektive "Kaffeehausliterat" zunehmend in Richtung "Asphaltliterat", also die "wurzellose" urbane Moderne. Als "Asphaltliterat" stellte Anton Kuh sich bei seinen Stegreif-Auftritten nach 1933 wiederholt dem Publikum stolz vor, den völkischen Kampfbegriff ironisch in eine Selbstbeschreibung wendend. Dass man ihn den "Schollenlosen" zurechnete, fand Kuh durchaus passend: "Franz Werfel erläuterte einmal den Unterschied zwischen ,konsekutiver Logik‘ und ,assoziativer Logik‘: diese finde man seltsamerweise bei den Menschen, die mit dem Acker keinen Zusammenhang hätten, jene gehöre den Schollenverbundenen. Wenn das wahr ist, dann kann ich die Leute verstehen, die meine Frechheit bodenlos nennen."

Kuhs Bonmot "Was ist ein Kaffeehausliterat? Ein Mensch, der Zeit hat, im Kaffeehaus über das nachzudenken, was die anderen draußen nicht erleben" ist hingegen mitnichten als launige Selbstcharakterisierung zu verstehen. Denn er hegt eine Aversion gegen die feuilletonistischen Dampfplauderer, die "statt in der Welt im luftleeren Raum der Intellektualität leben" und, während über dem Strich Tacheles geredet wird, unter dem Strich die Misslichkeiten der Welt mit einem rosa Zuckerguss drapieren.

Wiener Geistesleben

Die abschätzige Bedeutung ist noch in den 1980er Jahren geläufig: So hatte 1981 ein anonymer Rezensent des Anton-Kuh-Sammelbands "Luftlinien", der den hellsichtigen und streitbaren Intellektuellen herausstellte, in der "Arbeiter-Zeitung" kopfschüttelnd vermerkt, dass die "absurderweise aus der DDR" übernommene Teilsammlung Kuh weniger "als den Clown, sondern als Kämpfer, zumindest im Nachwort weniger als flanierenden Feuilletonisten denn als Bekenner" zeige. Zwei Jahre darauf bringt er in der Besprechung des Nachfolgebands, "Zeitgeist im Literatur-Café", seinen Widerwillen auf den Punkt: Nicht ernst zu nehmen, allenfalls der "Charmeur, der Humorist" sei der Beachtung wert: "Druckt von Kuh, was ihr finden könnt, aber laßt ihn sein, was er war, ein Wiener Caféhausliterat."

In William Johnstons "Österreichischer Kultur- und Geistesgeschichte" ist das Kaffeehaus im Fin de Siècle schlechthin Zentrum des Wiener Geisteslebens - und unter anderem stilbildende Produktionsstätte der zeitgenössischen und -typischen Literatur: "Triumph der Konversation in Kaffeehaus und Feuilleton" lautet der programmatische Zwischen- titel im größeren Abschnitt "Phäaken und Feuilletonisten", der das Stereotyp der Wiener Genusssucht mit der hiesigen kulturellen Praxis kurzschließt. Womit er, scheint’s, einen Aspekt von Wiener Lebensart und Weltverständnis treffend fasst.

Zählebige Mythen

Dass der Begriff "Kaffeehausliteratur" als Gattungs- oder Genrebezeichnung unbrauchbar ist, weil sich unter diese nichts praktikabel, geschweige denn sinnvoll subsummieren lässt, ist inzwischen wissenschaftlich ausdiskutiert. Dass im Kaffeehaus bisweilen auch Texte verfasst wurden, ist unbestritten und im Einzelnen belegt. Dass viele Autoren ihre literarische Arbeit dorthin verlegt hätten, ist dagegen einer jener zählebigen Mythen, die sich um diesen "eng mit Wien verbundenen Gemeinplatz" (Roland Innerhofer) gebildet haben.

Damit erweist sich auch der Schluss von der (vermeintlichen) Schreibsituation - vom unruhigen Ambiente - auf Textcharakteristika wie Kürze, Prägnanz, Mündlichkeit, Aktualität, Dialogizität als Fehlschluss. Nicht der (vermeintliche) Entstehungsort bestimmte die Formenwahl, sondern der Publikationsort: das Feuilleton, soll heißen, das der Kultur gewidmete "Buch" der Tageszeitung, respektive der dieser Materie unter dem Strich reservierte Platz.

Neuere Literaturgeschichten, gleich ob österreichischer oder deutscher Provenienz, operieren denn auch nicht mit dieser Kategorie, sondern heben allenfalls auf das Kaffeehaus als halböffentliche soziale Institution, als gesellige Begegnungsstätte der Literaturszene ab. Was nichts daran ändert, dass weiterhin, ungeniert um die Triftigkeit und deskriptive Validität des Etiketts, etwa Egon Friedell, Peter Altenberg, Alfred Polgar, Anton Kuh, Joseph Roth, Franz Werfel, Hugo von Hofmannsthal und Karl Kraus, bisweilen auch Robert Musil im Rahmen touristischen Wien-Marketings unter "Kaffeehausliteratur" und unter dem Signum anheimelnder Donaumonarchie-Nostalgie verkauft werden - verraten und verkauft! Dass die Genannten alle in einen Topf geworfen werden, ist abenteuerlich genug. Die "Kaffeehausliteratur", diese Deutung des Wienertums aus dem Geist des Gugelhupfs - ganz Wien ein einziges Kaffeehaus! -, gehört unverrückbar zum Inventar der donaustädtischen Folklore: der "innere Doppeladler" (Friedrich Torberg) gleichsam oder halt die paar ausgerupften Federn, die man sich hier immer noch gern an den Hut steckt.

Probe aufs Exempel: Wer käme auf die Idee, den Logischen Empirismus "Kaffeehausphilosophie" oder jene Vertreter des Wiener Kreises, die im Café Central verkehrten, darunter Moritz Schlick, Otto Neurath, Rudolf Carnap und Kurt Gödel, als "Kaffeehausphilosophen" zu bezeichnen?

Aber selbst gegen das hiesige Gewese um das "Literaturcafé" und dessen Verklärung zum geselligen Ort inspirierten und inspirierenden Gedankenaustauschs erhob sich zeitgenössisch schon vehementer Einspruch. Der Schriftsteller Ludwig Hirschfeld etwa schildert das Litertatencafé 1912 in seinem durchgängig ironisch markierten Initiationsbericht als Jahrmarkt der Eitelkeiten und Börsenplatz findiger literarischer Kleinunternehmer, allesamt "Agenten des eigenen Ruhms".

"Das mit dem Café Griensteidl und den großen Schlagworten, die dort von Bahr ausgegeben worden sein sollen, ist Erfindung und Eselei." (Hermann Bahr).
© Archiv

Der Kulturpublizist Edmund Wengraf beschreibt die bisweilen als Bildungsanstalt, von Hermann Bahr gar als "platonische Akademie" verklärte Institution in seiner Diatribe gegen dieses Capua der Geister 1891 desillusioniert als "Schule der geistigen Verderbniß". Und der Journalist und Dramatiker Rudolf Lothar macht sie 1907 als Brutstätte des "literarischen Schmocks" aus: "Schmock" verstanden als "exzentrischer Wichtigtuer in Dingen, deren Geringfügigkeit in keinem Verhältnis steht zu dem idealen Schwung, den er an sie vergeudet", als "Don Quixote des Banalen" -, dem das Marmortischchen, an dem er seine Tage absitzt, der Nabel der Welt ist.

Hermann Bahr zerlegt denn auch 1903 in einem Interview mit dem "Neuen Wiener Journal" die Legende rund um "Jung-Wien" und dessen Geburts- und Pflegestätte: "Und das Café Griensteidl? Die legendarische Kaffeehausliteratur? Bahr lächelt und Schnitzler greift in die Debatte ein. Der Eine erklärt, in seinem Leben nur zweimal mit Schnitzler und Hofmannsthal zusammen in dem genannten Café gewesen zu sein, der Zweite ist geärgert darüber, daß man noch immer in ,trefflich‘ informierten Zeitschriften von ihm als Kaffeehausdichter spricht. Und ich entnehme den Ausführungen Folgendes: Das mit dem Café Griensteidl und den großen Schlagworten, die dort von Bahr ausgegeben worden sein sollen, ist Erfindung und Eselei. Aber Bahr amüsirt sich darüber, daß die Legende noch heute erhalten ist."

Noch feiern das Wiener Café - seit 2011 immaterielles Unesco-Kulturerbe - und die "Kaffeehausliteratur" als touristische Trademarks fröhliche Urständ. Es könnte aber gut sein, dass die Fama der Institution Kaffeehaus einmal genauso in Rauch aufgeht wie die Legende, Arnold Schönberg sei zur Dodekaphonie durch die Farbkarte mit - eben - zwölf nummerierten Brauntönen inspiriert worden, mit deren Hilfe der Ober eines Wiener Cafés den Gästen das Getränk in der gewünschten Mischung serviert haben soll.

Anton Kuh entzaubert die Kaffeehaus-Mythologie 1933 in der "Süddeutschen Sonntagspost" harsch, insbesondere die Illusion des Gasts, dass "seine Individualität hier restlose und diensteifrige Beachtung fände":

"Fünf Männer nehmen am Kaffeehaustisch Platz.

,Eine Melange mehr licht!‘ sagt der erste, frei nach Goethe, zum Ober.

Der zweite: ,Einen Kapuziner!‘

Der dritte: ,Eine Schale Gold ohne!‘ (Ergänze: Haut.)

Der vierte: ,Einen Nuß mit!‘

Und der fünfte: ,Ein Kaffee verkehrt!‘

Der Kellner gibt die Aufträge dröhnend durchs Küchenfenster weiter: ,Fünf Lauf!‘ (Summarische Bezeichnung für Milchkaffee.)"

Walter Schübler, geboren 1963, Publizist, lebt in Wien. Zuletzt erschienen: "Anton Kuh. Biographie" (Wallstein Verlag).