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Wenn wir nicht begreifen, dass jedes Menschenleben gleich viel Wert hat, haben wir den Krieg gegen den IS schon verloren.
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So schnell geht das also. Vergangenes Jahr haben wir noch die Erinnerung an 1914 zelebriert; dann waren wir noch damit beschäftigt, das "Friedensprojekt Europa", das uns plötzlich nicht mehr schmeckt, zu beerdigen. Jetzt ist also Krieg.
Schon werden Flugzeugträger versetzt, ein Hauch von Mobilmachung liegt in der Luft. Um es vorweg zu sagen: Die Anschläge auf Paris waren heimtückisch, martialisch und barbarisch und sind durch nichts zu entschuldigen. Indes, nur einen Tag vor Paris, töteten zwei Selbstmordattentäter in Beirut mehr als 40 Menschen - wo war da der Aufschrei in den westlichen Medien?
Krieg ist ein völkerrechtlicher Begriff. Man tritt aus der zivilen Normalität heraus. Werden wir formal den Krieg erklären und, wenn ja, wem? Dem IS, der Staat sein will, aber keiner ist? Und was ist unser Kriegsziel? Die Vernichtung des IS und die vollständige Befreiung des syrischen Volkes? Die unangenehme Wahrheit ist: Wir wollen nicht unsere Werte, sondern unsere Sicherheit, unser Leben und unseren Wohlstand verteidigen. Denn wenn es um die Verteidigung unserer Werte ginge, hätten wir diese schon lange verteidigen sollen.
Mit dem Gerede von der "Verteidigung unserer Werte" wird erstens nur der Steigbügel gehalten für eine maßlose Aufrüstung von Polizei-und Sicherheitsmaßnahmen in ganz Europa. Das aber führt in die Sackgasse, weil der IS damit genau das bekommt, was er will: dass wir uns selbst unserer Freiheit berauben und demnächst unter Video-Kameras ins Restaurant gehen. Und zweitens für eine maßlose militärische Aufrüstung, für die jetzt im Handumdrehen mehr Geld mobilisiert werden dürfte, als wir für die Flüchtlinge je bereitwillig ausgegeben hätten. Der Friedenspreisträger Navid Kermani hat gesagt: "Die Liebe zum Eigenen erweist sich in der Selbstkritik." Die tief empfundene Unstimmigkeit zwischen unseren proklamierten Werten und der Realität ist der Nährboden des IS. Wir treten unsere "Werte" mit Füßen. Wir rüsten die Saudis auf, kooperieren mit den miesesten Staatschefs Afrikas, erliegen dem Diktat des Geldes und stellen gerade unter Beweis, wie wenig uns ein Flüchtlingsmenschenleben wert ist.
Wir sind ganz sicher die Reichen, aber in den Augen vieler schon lange nicht mehr die Guten. Und in den Augen einiger sind wir die Barbaren. Vielleicht will uns der IS das sagen? Und vielleicht wollen wir genau das nicht hören? Solange wir nicht begreifen, dass jedes Menschenleben gleich viel Wert hat, haben wir den Krieg gegen den IS schon verloren, noch bevor er richtig angefangen hat.
Bei uns sind Menschenleben sehr teuer. Für den IS sind sie unbezahlbar. Deshalb kann man seine Krieger nicht "kaufen". Der IS führt seinen asymmetrischen "Krieg" mit einer Währung, in der wir nicht bezahlen können: Menschenleben. Das ist unsere Achillesferse. Mit jeder Drohne, mit der wir Bomben abwerfen und IS Stellungen bombardieren, wird er unsere Städte in Europa in die Luft sprengen und wir werden immer nur mehr Angst haben. Man kann es auch mit dem römischen Philosophen Juvenal sagen: "Betrachte es als die größte Scham, das nackte Leben höher zu stellen als die Scham; und um des Lebens willen die Gründe, für die es sich zu leben lohnt, zu verlieren."