Die Debatte über die Zukunft der Europäischen Union ist eröffnet. Die Reformvorschläge, ob sie von Deutschland, Frankreich oder Großbritannien geäußert werden, sind jeweils von den eigenen Interessen der Mitgliedstaaten beeinflusst. Die Institutionen innerhalb der Union ringen ebenso um ihr Mitspracherecht. Die im Rat versammelten Staats- und Regierungschefs wollen keinesfalls an Macht einbüßen. Die Europa-Abgeordneten wollen ihrerseits als direkt gewählte Vertreter der Bevölkerung stärker in die EU integriert werden. Babylonische Verwirrung existiert sprachlich ebenso wie politisch.
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Das "Gebot der Stunde", das alle verantwortlichen Politiker - ob auf nationaler oder auf europäischer Ebene - beschwören, heißt "Solidarität". Die Debatte über europäische "Bundesstaaten" oder ein Europa als "Staatenbund", die im Augenblick geführt werde, sei ein "fruchtloser Kampf"; diese Frage "sollten wir der nächsten Generation überlassen", findet der Grüne Abgeordnete zum Europäischen Parlament Johannes Voggenhuber. Er mutierte vom einstigen EU-Gegner zum glühenden Verfechter einer europäischen Verfassung. Die europäische Demokratie mit republikanischer Grundordnung und eine Sozialordnung in der EU nennt Voggenhuber als die beiden gemeinsamen Ziele. "Das europäische Modell" werde stärker präzisiert durch die nunmehr konservative Regierung der USA unter George W. Bush, findet SPÖ-EU-Abg. Hannes Swoboda. Das europäische Modell bestehe etwa in der Vielfalt der Kultur und dass es keine Todesstrafe gibt.
Das "geistige Kapital" der EU mit der Vielfalt ihrer Kulturen und den tiefverwurzelten demokratischen Traditionen ist für Kommissionspräsident Romano Prodi eine der Grundlagen der Union. Daneben sieht er zwei "große Trümpfe": das Wirtschafts- und Handelsgewicht sowie die Erweiterung, mit der 50 Jahre ideologische Teilung zu Ende gehen, betonte er in einer Grundsatzrede, die er vergangene Woche in Paris hielt. Prodi forderte (ebenso wie andere Europa-Politiker vor ihm) eine - nicht näher definierte - europäische Steuer. Diese solle das derzeitige System der nationalen Beiträge ersetzen, "das fortwährend Konflikte zwischen den Staaten hervorruft".
Europa-Steuer
Die Reformdiskussion in Europa werde von der Verfassungsdebatte durch "einen Nebelvorhang" verdeckt, meint ÖVP-EU-Abg. Ursula Stenzel. In der Tat spielen neben institutionellen Reformfragen - Stärkung der Kommission, eine zweite Kammer in der EU, wie vom deutschen Kanzler und SPD-Chef Gerhard Schröder vorgeschlagen - die künftigen Inhalte der EU eine zentrale Rolle. Seien es eine Wirtschaftsregierung oder eine Art europäischer Finanzausgleich und ein Sozialvertrag, wie das Frankreichs sozialistischer Regierungschef Lionel Jospin zuletzt gefordert hat.
Welche Inhalte in der EU?
"Wohlgemerkt geht es nicht um die europaweite Harmonisierung aller Sozialvorschriften", stellte Kommissionspräsident Prodi in seinem Grundsatzreferat ausdrücklich fest. In der Sozialpolitik hat die EU - vorerst - nur begrenzte Befugnisse. "Ebenso dürfen wir auch nicht die Umwelt außer Acht lassen", verwies Prodi auf den Grundsatz der nachhaltigen Entwicklung auch in der Wirtschaft. Und nicht zuletzt muss sich die Union noch eine einheitliche Außenpolitik geben. Derzeit hat die EU neben einem Kommissar für auswärtige Angelegenheiten (Chris Patten) zusätzlich einen Hohen Beauftragten für die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (Javier Solana).
So wesentlich die Inhalte der EU sind - die Union muss dennoch regiert werden. Klar ist für Prodi jedenfalls: Die nationale und die regionale Ebene müssen am "europäischen Aufbauwerk" beteiligt werden. "Fühlen sich die Bürger nicht auf der lokalen, nationalen und europäischen Ebene politisch betroffen, wird es niemals eine breite Zustimmung der Bevölkerung zur EU geben." Die EU-Abgeordneten beharren auf mehr Mitspracherecht. In rund 70 Prozent der Materien kann das Europäische Parlament (EP) mitentscheiden. Vom Vertrag von Nizza hat sich das EP - vergeblich - mehr Macht erhofft. Nicht nur aus diesem Grund hat das EP den Vertrag heftig kritisiert, vergangene Woche dennoch abgesegnet.
Parlamentarisierung
Für die legistische Aufgabe des EP müsse verstärkt "der Blick geschärft" werden, fordert VP-EU-Abg. Stenzel. Das EP solle die volle Rechtsfähigkeit in allen Bereichen - auch die Budgethoheit - erhalten, schließt sich Stenzel Schröders Vorschlägen an. Das würde das Europa-Parlament gegenüber dem Rat (Staats- und Regierungschefs) stärken. Drastischer formuliert Grünen-EU-Abg. Voggenhuber die Forderung nach einer Aufwertung des EP. Er sieht für das Europa-Parlament "die Stunde gekommen". Das Parlament sei der alleinige Gesetzgeber und müsse in seine Rechte eingesetzt werden. Hingegen sei der Rat von der Exekutive zur Legislative geworden. Voggenhuber sieht darin einen "Bruch der demokratischen Legitimationskette". Der Rat sei das "schwarze Loch der Demokratie in der EU". Seine Macht müsse gezähmt werden, so Voggenhuber. Der Rat wird aber weiter das letzte Wort haben. Schließlich müssen die Staats- und Regierungschefs die getroffenen Entscheidungen auch in ihrer Heimat mittragen.
Entscheidung im Dezember
Offizielle Reformvorschläge soll eine Versammlung von nationalen Politikern und Vertretern der EU-Institutionen nach dem Vorbild des Konvents zur Ausarbeitung des EU-Grundrechtskatalogs ausarbeiten. Wie der neue Konvent zusammen gesetzt sein wird, ist noch offen. Außerdem präsentiert die Kommission im Juli ein Weißbuch darüber, wie die Europäische Union regiert werden kann. Die Entscheidung über den Konvent, der dann wieder der Regierungskonferenz Reformvorschläge unterbreiten soll, wird im Dezember gefällt.