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Pinien ragen in den tiefblauen Himmel. Orangenblüten duften. Rosenbäumchen, Stiefmütterchen, Löwenmaul in gepflegten Rabatten. Stufen führen zu einer von eleganten Säulen getragenen kleinen Kuppel in Form einer Derwisch-Mütze. Da steht der Sarg, aus einem einzigen Stück Alabaster: Das Grab des Dichters Hafis in Schiras. Bräute kommen hierher, um ihren Brautstrauß auf den Sarkophag zu legen. Sie bitten um eine gute Ehe. Zwei junge, glutäugige Iranerinnen schwärmen von Hafis, der seit 600 Jahren tot ist: Seine Gedichte seien ihnen so wichtig wie der Koran. 95 Prozent aller Iraner hätten eine Ausgabe seiner Werke neben dem Koran stehen.
Hier stimmt das Persien-Bild, das Goethe in seinem "Westöstlichen Divan" schuf, nachdem er Hafis-Gedichte in Übersetzung kennen gelernt hatte: "Gottes ist der Orient!/ Gottes ist der Okzident!/ Nord- und südliches Gelände/ Ruht im Frieden seiner Hände." Die Mädchen erzählen, dass die Leute vor einer Reise den "Diwan" des Mystikers Hafis wahllos aufschlagen; jede zufällig gefundene Stelle kann die Zukunft voraussagen, ist ein Omen.
Das Englisch der Mädchen ist zaghaft. Als erste Fremdsprache müssen Iraner seit der Revolution von 1979 Arabisch lernen. Wie ihre Vorfahren vor mehr als 1300 Jahren, als Persiens uralte Geschichte abgeschnitten wurde durch den Einfall der Araber aus dem Süden. Seither wird Persisch in arabischer Schrift geschrieben.
Ein Blick auf die Landkarte zeigt es: Das Staatsgebiet des Iran mit seinen heute 70 Millionen Einwohnern ist ein Durchzugsland. Im Westen grenzt es an den Irak, die Türkei, Armenien und Aserbaidschan, im Nordosten und Osten an Turkmenistan, Afghanistan, Pakistan. Eingezwängt zwischen die amerikanischen Einfluss-Sphären in Ost und West, versucht die iranische Regierung, den Amerikanern keinen Anlass zu geben für ähnliche Aktionen wie in Afghanistan und im Irak.
Der "Feind" droht aber nicht nur von außen, sondern auch von innen. Irans Bevölkerung wurde bereits vom Vater des letzten Schahs in eine unislamische Verwestlichung getrieben — damals riss die Polizei den unwilligen Frauen den Schleier herunter. Von seinem Amerika-freundlichen Sohn, Schah Mohammad Reza, hatte die gläubige muslimische Bevölkerung endgültig genug, als er den islamischen Sonnenkalender abschaffte und ihn durch eine neue Zeitrechnung ersetzte, die vom Krönungsjahr Kyros' des Großen ausging. Der Schah musste 1979 das Land verlassen.
Doch was dann kam, scheint vielen Iranern heute wie ein gigantischer Irrtum: Die Herrschaft der Geistlichen, Khomeinis Erben. Der Gottesstaat ist in der Verfassung festgeschrieben: Über dem Parlament und dem Präsidenten steht der "Wächterrat" der schiitischen Schriftgelehrten. Ein lebenszugewandtes Volk versucht dennoch, Normalität zu leben.
So erwarten Teheraner am Flughafen ihre Angehörigen aus dem Ausland mit riesigen Rosen-, Nelken- und Calla-Sträußen. Sie fahren auf gut ausgebauten Straßen und Autobahnen, von denen die erste noch in die Schah-Zeit zurückreicht. Der Iran bietet westlichen Besuchern durchaus brauchbare bis hin zu exzellenten Hotels. Allerdings sind die Schwimmbäder in den Hotelgärten leer. Denn der Kampf gegen unzüchtiges Hautzeigen der Frauen lässt zwar etwas nach, doch Kopftuch und formenverhüllende lange Gewänder in toten Farben, Schwarz, Grau, schmutziges Beige, sind allgegenwärtig.
Westliche Besucherinnen des Landes müssen schon im Flugzeug von Iran Air der islamischen Kleiderordnung folgen. Ehe das Flugzeug abhebt, hört man dann statt Entspannungsmusik staunend durch das Kopftuch Gebete, mit voll tönender Stimme vorgetragen. Das Kopftuch verändert die Wahrnehmung. Sicher merken iranische Frauen, die seit dem sechsten Lebensjahr an die muslimische Verhüllung gewöhnt werden, nicht so sehr wie schleierfrei aufgewachsene Frauen, wie schlecht man mit Kopftuch hört. Während ein Mann erzählt, er habe in Kabul einen Dolmetscher gebraucht, fragt eine Kopftuch-ungewohnte westliche Zuhörerin: "Wozu haben Sie eine Wollmütze gebraucht?" Verhüllte Frauen machen den persischen Alltag unsinnlich, reizarm. Scheinbar allerdings nur, denn die Mädchen beherrschen durchaus "das frevle Spiel der Augen". Ob die Konkurrenz zwischen Frauen dadurch eingedämmt wird? Die Zahl der Nasenoperationen spricht dagegen: sie ist im Iran weltweit die höchste. Früher wurden den Frauen übrigens bei Treulosigkeit die Nasen abgeschnitten . . .
Während im Westen die Unterschiede zwischen Mann und Frau immer mehr eingeebnet werden, hält der Islam eisern an der Verschiedenheit der Geschlechter fest. In Kashan im Zentraliran gibt es ein nobles Wohnhaus eines Kaufmanns aus dem 19. Jahrhundert. Schon an der Eingangstür beginnt die Geschlechtertrennung: Der Frauenklopfer tönt metallisch hell, der für Männer dunkel. Musste eine Frau die Tür öffnen, so hatte sie ihren Zeigefinger beim Antworten unter die Zunge zu stecken, um ihre Stimme zu entstellen.
Hat vielleicht die Liebe in der persischen Dichtung einen so hohen Wert, weil sie nicht wohlfeil ist? Man fühlt sich auch an viele Begebenheiten aus "Tausend und einer Nacht" erinnert, wo Helden ihr Bewusstsein verlieren, weil der Gesang einer weiblichen Stimme ihr Ohr trifft. "A woman modestly dressed is like a pearl in its shell" verkündet ein großes Plakat neben dem Daniel-Grab in Susa. Die Mystiker empfehlen auf dem Weg zur Gottesliebe, zum Paradies durchaus den Umweg über die irdische Liebe...
Apropos Paradies: Ein gräzisiertes persisches Wort. Paradiesische Orte gibt es noch immer im Iran: Gärten vor allem, mit Palästen, durch die Bäche rauschen. Paradiesisch schön und dabei gar nicht entrückt ist auch eine ganze Stadt: Isfahan, mit seinem 511 Meter langen und 110 Meter breiten Hauptplatz, der fünfmal größer als Venedigs Markusplatz ist. Hier gibt es prachtvolle Moscheen, über und über bedeckt mit leuchtenden Mosaiken, nicht nur glasierten Ziegeln. Hier wird die Bilderlosigkeit des Islam im religiösen Bereich zum Ereignis, nimmt doch die Schrift die Rolle des Bildes ein.
Abends dann ein Spaziergang durch den Basar mit seinen orientalischen Gewürzsäcken und den Miniaturmalern, die mit feinsten Katzenhaarpinseln ihre Kunstwerke auf Knochen zaubern. Weiter auf oder unter der 33-Bogen-Brücke, mit Blick aufs gleißende Wasser des Zayandehrud-Flusses, zum Teetrinken, während Märchenerzähler unter beifälligem Nicken der Lauschenden weit ausholen, umrauscht vom Wasser. 99 Namen hat Allah, 99 Perlen zählt die Gebetsschnur, ein Drittel, 33 Bögen hat die berühmte Brücke.
Auf ihr flaniert zu fortgeschrittener Stunde die iranische Jugend, die so gar nichts von Ängstlichkeit, Verschlossenheit oder Langeweile in den lebhaften, offenen Gesichtern zeigt: Die Jugend ist auch in der Überzahl. 65 Prozent der Iraner sind unter 35 Jahre alt. Probleme haben sie dennoch. Die Arbeitslosigkeit beträgt offiziell 12 Prozent, inoffiziell 20. Im Iran gibt es keinen Mohnanbau. Aber auf vielen Straßen sind Kontrollstationen eingerichtet, um Lastautos aus Afghanistan auf Drogentransporte zu kontrollieren. Irans Jugend ist stark drogengefährdet.
Und die Städte haben in ihren neuen Vierteln ein ästhetisches Problem, denn die große Zeit der Architektur und des Kunsthandwerks ist vorüber. Beredtes Zeugnis ist das Bau-Chaos der 12-Millionen-Stadt Teheran. Oder leben hier 18 Millionen? Niemand scheint es zu wissen. Niemand scheint sich um die Einhaltung von Bauordnungs-Vorschriften zu kümmern. In Teheran wachsen auf 1900 Metern Höhe noch Hochhäuser aus dem Boden. Hier oben ist wenigstens die Luft nicht so schmutzig . . .
Iran: Ein Land der Gegensätze, nicht nur geographisch, mit hohen Bergen und weiten Wüsten, übervölkerten Städten und einsamen Dörfern, uralten Städten, die auf dem Marktplatz als Wahrzeichen ein riesiges Maschinengewehr aufgerichtet haben. In der 1,6 Milliarden Menschen umfassenden muslimischen Weltgemeinschaft sind Irans Schiiten eine Minderheit. Sie führen ihre Tradition direkt auf den Propheten und seine Nachkommen zurück und verehren besonders den von anderen Muslimen ermordeten Prophetenenkel Husein: Eine Märtyrer-Religion, voll Leidenschaft und Mitleidensfähigkeit . . .
Wer vom Iran nur als Teil der "Achse des Bösen" spricht, beweist seine Unkenntnis gegenüber einem Volk mit einer großen und tragischen Geschichte. Einem Volk, das (fast) alkoholfrei lebt, unter der Herrschaft von Geistlichen, die die Menschen in eine Zwangsjacke gesteckt haben. Diese Menschen besitzen aber einen nicht zu brechenden Lebensmut. Sie essen köstlich, pflegen ihre eigene Musik, schreiben seit Jahrhunderten im Westen kaum bekannte herrliche Bücher, beliefern die ganze Welt mit ihren Teppichen und Pistazien (60 Prozent der Weltproduktion). Ihre Neugier ist unersättlich: Junge Mädchen im Iran bitten an jedem Ort höflich darum, mit westlichen Frauen aufs Bild gebannt zu werden, als wollten sie sich und anderen beweisen: Es gibt eine Welt draußen, wir können es bezeugen.
"Die Welt ist ein Gästehaus", lautet ein Sufi-Spruch. Der Iran heißt Gäste willkommen. Sie könnten sich ihr eigenes Bild machen, auch wenn es bruchstückhaft bleibt.
Im Schah-Palast in Teheran blenden viele Räume mit ihren Wand- und Decken-Spiegel-Mosaiken: Der Besucher findet vor lauter Zersplitterung kein Spiegelbild. Es lohnt sich aber, aus Bruchstücken ein inneres Bild zu schaffen und den Klischees vom fortschrittlichen Westen und dem Dritte-Welt-Land Iran zu misstrauen. n