Jean Paul ist ein Außenseiter der deutschen Literatur. Aberwitz, "Blumik" und Phantasmagorien prägen sein ironisch-satirisches Werk. Am 21. März jährt sich der Geburtstag des Autors zum 250. Mal.
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Der Mensch ist eitel. Selbstgefälligkeit ist zwar die erste der Todsünden. Doch keiner fühlt sich dieser Sünde schuldig, noch will er darauf hingewiesen werden, sondern sieht sie meist nur beim Anderen. Wie könnte man es anstellen, dass sich der Eitle persönlich getroffen fühlt und dennoch nicht beleidigt ist?
Jean Paul konnte das - mit dem kühnsten Trick der Literaturgeschichte - im größten seiner Bücher, dem "Titan" (im Fränkischen wird das auf der ersten Silbe betont), zu Beginn des 19. Jahrhunderts erschienen. Es ist der offenste Roman, der sich denken lässt. Alle Anspielungen, Assoziationen, Abschweifungen sind erlaubt, jeder Aberwitz und Aberglaube wird aufgetischt, alle Grenzen sind durchbrochen. Illusionen werden zerstört, die "vierte Wand", wie sie im Theaterstück gilt, ist niedergerissen, das heißt: der Autor tritt auf und spricht seinen Leser an. Er zwingt ihn, seine Eitelkeit zu reflektieren: "Ich kann mich hier freudig auf jeden denkenden Leser berufen, ob er sich je, wenn er eben ungewöhnlich eitel einhertrat, tiefe Gewissensbisse oder Misstöne im Ich verspürt zu haben entsinnt."
Da der Autor sich selbst nicht schont, erwartet er vom Leser dieselbe Kritik an der eigenen Selbstsucht. Dabei versteht sich Jean Paul nicht als Zuchtmeister seiner Leserschaft, er will ihr nur so nahe wie möglich kommen und vermeiden, dass sie sich zurücklehnt und nicht gemeint meint.
Erfinder des Epilogiker
Jean Paul ist ein Außenseiter der deutschen Literatur geblieben. Es "gibt" ihn nun schon 250 Jahre: Geboren wurde er als Johann Paul Friedrich Richter am 21. 3. 1763 in Nordostoberfranken in der Armut eines Pfarrhauses, gestorben ist er viele tausend Seiten später 1825 in Bayreuth, abgesichert durch ein Gnadengehalt. Er ist nicht unbekannt - doch nicht allzu emsig gelesen, weil das nicht schnell geht. Jeder Satz spießt sich, lässt innehalten, oft genug kann man eine Vokabel nicht nachschlagen, weil er sie eigens ersonnen hat: "Epilogiker" zum Beispiel für einen, der bei Büchern vom Anfang gleich zum Schluss springt, damit er weiß, wie’s ausgeht.
Nur widerwillig ist Jean Paul in den Kanon aufgenommen worden, keiner literarischen Strömung, keiner politischen Richtung, keiner konventionellen Tendenz zuordenbar. Er wollte durchaus so elitär sein: Als er eine seiner fingierten Vorlesungen hält, kokettiert er damit, nur einen einzigen Zuhörer für sie interessieren zu können: Albano, die Romanfigur aus dem "Titan". Wobei auch die Bezeichnung "Roman" nicht zutrifft. Das Werk hat keinen Untertitel. Was er schrieb, sollte nicht konventionell klassifiziert werden.
Seine Besonderheit: Er will nicht "mit der Wirklichkeit [seine] Dichtkunst wässern", will nicht die Welt beschreiben, allenfalls vortäuschen. Sprache ist ihm selbsterschaffenes Bild, nicht Abbild. Die Natur ist schon da - warum sollte man sie nachahmend wiederholen? Es genügt, Realitätspartikel aufzuzählen, das ist schon komisch genug.
Der Liebhaber zur Ziegenhirtin: "Sieh, Suse, blüht nicht alles vor uns wie wir, der Wiesenstorchschnabel und die große Gänseblume und das Rindsauge und die Gichtrose und das Lungenkraut bis zu den Schlehengipfeln und Birnenwipfeln hinauf? Und überall bestäuben sich die Blumen zur Ehe, die jetzt dein Vieh frisst!"
Die Dinge sind nicht um ihrer selbst willen da, sie sind Beispiele für den vergleichsseligen Autor, der alles um sich herum genau zu benennen weiß und für seinen Zweck der rhetorischen Dominanz einsetzt. Er schafft seinen Geschöpfen eine eigene Welt, in der sich nicht leben lässt, aber lachen und träumen.
Und wenn sich weisen sollte, dass im Himmel kein Gott sei - wie er in einem Angsttraum befürchtet - Jean Paul tritt an seine Stelle. Die Welt ist ein leeres Blatt, das er mit seiner ausschweifenden Phantasie ausfüllt. Seine Einbildungen gehen über alle Beobachtungen, Erfahrungen, Erlebnisse hinaus.
Deshalb verfasst er eben auch keine "Romane", die eine gewisse Welthaltigkeit beanspruchen, sondern am liebsten "Biographien", willkürliche Lebensbeschreibungen erdichteter Personen mit absonderlichen Namen (Siebenkäs, Fibel, Quintus Fixlein, Attila Schmelzle, Amandus Katzenberger), denen alles zustoßen kann, weil ihr Leben keinen gesellschaftlichen Regeln unterliegt. Sein Schulmeisterlein Wutz, der kein Geld hat, Bücher zu kaufen, schreibt sich die Inhalte zu den Titeln aus dem Messekatalog selbst.
Konjekturalbiographie
Wenn Jean Paul seine Vergangenheit erzählt, verklärt er sie zum Idyll, was seiner entbehrungsreichen Kindheit und Jugend Hohn spricht. Deshalb imaginiert er sich lieber eine prächtige Zukunft und schreibt eine "Konjekturalbiographie", einen "bevorstehenden Lebenslauf". Da bleibt er von den Unbilden der Wirklichkeit unbehelligt, er kann erfinden, ohne sich ein Wahrhaftigkeitszertifikat abfordern lassen zu müssen. Da kann er sich auch die Ehefrau erdichten, und zwar eine, die nicht sein "Gut" liebt, sondern sein "Gutes". Da kann er sogar gemeinnützig sein mit dem Aperçu: "Man muss nicht bloß an einem Orte sehr viel sein, sondern auch für einen Ort".
Gerne malt er weibliche Grazie, wobei er das Einmalige, Nicht-Vergleichbare über ein gleichmacherisches Schönheitsideal stellt. Der Erfinder der Pockenschutzimpfung wird gerügt: "Einige Pockengruben legten dem beseelten und wie Frühlings-Büsche zart- und glänzend-durchsichtigen Angesicht noch einige Reize zu, um welche der Doktor Jenner die künftigen Schönen bringt." - Was nicht bedeutet, dass dem Autor im Leben alle jungen Frauen, die ihm zur Auswahl stehen, von den Blattern zur liebenswerten Individualität gestanzt sein müssen. Als die Wielands ihm nahelegen, bei ihnen zu wohnen, lehnt er ab, weil er argwöhnt, dass sie ihm mit der Zeit eine der sitzengebliebenen Töchter zur Heirat andienen würden. In ihnen, schreibt er, "liegen schöne Herzen, aber mit den Gesichtern will’s nicht fort".
Angefangen hatte Jean Paul mit Satiren, Jonathan Swift stand Pate. Erfolgreich waren sie nicht, die Themen waren zu obskur, die Durchführung so vertrackt, dass über der Verschrobenheit der Gegenstand verloren ging.
Metaphorischer Stil
Über Nacht bekam er eine - vorwiegend weibliche - Gemeinde. Sein "Hesperus oder 45 Hundsposttage" (1895) war Literatur, die sich originell von der Dutzendware unterschied. Der Lektüre brauchte man sich nicht zu schämen, zumal sie auf höchstem Niveau unterhielt. Statt Logik herrschte "Blumik" vor - so nannte der Autor seinen metaphorischen Stil.
Mit den erfundenen Biographien hat Jean Paul dann dreißig Jahre lang sein Publikum unterhalten, ohne sich anzubiedern. Er musste immer wieder die Verleger wechseln, so einträglich war das Geschäft doch nicht. Und er legte sich ja auch mit den Meinungsmachern an.
Im zerstrittenen Weimar fand er wenig Zugang zu Goethe, keinen zu Schiller, dafür war er Herder willkommen, der ihn als Kon-trastprogramm gegen die beiden Dioskuren, die eben die "Klassik" erfunden hatten, positionieren wollte. Denen behagte denn auch die unmäßige Wirklichkeitsferne wenig. Goethe diffamierte ihn als "Chinesen in Rom", der die heimischen bunt vergoldeten Holzhütten den Marmorsäulen vorzieht und "der sein luftig Gespinst mit der soliden Natur / Ewigem Teppich vergleicht, den echten reinen Gesunden / Krank nennt, dass ja nur Er heißt, der Kranke, gesund."
Und Schiller greift noch höher, für ihn ist Jean Paul "fremd wie einer, der aus dem Mond gefallen ist". Beide erkennen die versponnene Art des jüngeren Kollegen, qualifizieren sie aber als befremdliche Eigenwilligkeit ab. Jean Paul rächt sich. Wenn er seinen erdichteten Dichter Theudobach, der sich als Dramatiker erbarmungswürdig überschätzt, einordnen will, dann neben die Berühmten: "Theudobach - der bekanntlich mit Schiller und Kotzebue die drei deutschen Horatier ausmacht". Damit verhöhnt er die beiden - die sich jede Zusammengehörigkeit verbeten hätten - als fingierte Figuren, denen er seinen Scharlatan zugesellt.
Das Spiel der Anspielungen setzt sich fort. Als Wieland "Das Hexameron von Rosenhain" schreibt, hat er die Lektion des Beschreibungsverzichts bei Jean Paul gelernt und vermittelt diese seinen eigenen Lesern: "Wir setzen dadurch Ihre Einbildungskraft in volle Freyheit, sich das alles so prächtig und reich . . . in Ihrem eigenen oder in gar keinem Geschmack, vorzustellen und auszumahlen, wie es Ihnen nur immer am gefälligsten seyn mag. Man hat sich an dergleichen Beschreibungen so satt gelesen, dass die Neuheit selbst (wenn anders ... nach Jean Paul noch etwas Neues in dieser Art möglich ist) kaum vermögend wäre, einige Aufmerksamkeit zu erregen."
Eine ironische Verbeugung, denn es ging Jean Paul nicht um Beschreibung - seine Landschaften hat er aus Reiseführern abgeschrieben.
Unverstandene Satire
Es ist offenbar nicht leicht, Jean Pauls Phantasmagorien und Figuren nicht an real existierenden Unholden zu messen. Selbst seinem bisher populärsten Biographen, Günter de Bruyn, ist dieses Missgeschick passiert, wenn er sich so sehr vor der gespenstischen, grotesken Unmenschlichkeit der Figur "Dr. Katzenberger" fürchtet, dass er diesen als "Vorläufer der Ärzte, denen Konzen-trationslager Laboratorien werden, und der Atomphysiker, die ihre Bomben mehr als die Menschen lieben", sieht.
Noch schlimmer treibt es Michael Zaremba ("Jean Paul. Dichter und Philosoph". Böhlau Verlag Köln, Weimar, Wien 2012), wenn er meint, dass sich mit Katzenbergers "fataler Logik sich selbst die Experimente eines KZ-Arztes wie Josef Mengele begründen lassen". Da hat einer die Satire nicht verstanden.
Zum Glück weiß es Beatrix Langner ("Jean Paul. Meister der zweiten Welt". Verlag C.H.Beck, München 2013) besser: "In dem unausdenkbaren Raum zwischen Geist- und Körperwelt . . . schafft sich die Poesie ihre zweite Welt aus Bildern und Zeichen. Ihr zeitloser Glanz zieht sich . . . bis in die Gegenwart, wo sich ihre unbegreifliche Schönheit und ihr kaltglitzerndes Pathos in irgendeinem Leser oder Dichter immer von neuem verjüngt."
Wenn man einen solchen nennen wollte, wäre es wohl am ehesten H.C. Artmann - auch er als Poet mehr gerühmt denn gelesen.
Reinhard Urbach, geboren 1939, war Leiter der Dramaturgie des Burgtheaters unter Direktor Achim Benning und von 1988 bis 2002 Direktor des Theaters der Jugend. Lebt in Wien.