Pandemie und Prekariat: In Wirtschaftskrisen verschieben junge Menschen das Kinderkriegen.
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In Zeiten, die von ökonomischer Unsicherheit gekennzeichnet sind, verschieben junge Menschen die Familienplanung auf später. Somit sinkt in Wirtschaftskrisen die Zahl der Neugeborenen. Auch die Coronavirus-Pandemie könnte sich in abfallenden Geburtenraten niederschlagen. Zu diesem Schluss kommt das Institut für Demographie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) anhand einer Auswertung von Daten zur Fertilität in Europa seit der Finanzkrise 2008.
Generell ist seit der Jahrtausendwende in jedem dritten europäischen Land die Bevölkerung geschrumpft. "Seit der Finanzkrise 2008 und der Rezession sind die Geburtenraten aber noch weiter gesunken. Dieser Trend zieht sich bis 2019 durch", sagt Studienleiter Tomá Sobotka zur "Wiener Zeitung".
Die Überraschung: Selbst in jenen Regionen Europas, die in der Vergangenheit relativ hohe Fertilitätsraten aufwiesen, wie etwa Großbritannien, Schweden, Finnland, Dänemark oder Belgien, kamen in der "Großen Rezession" 2008 bis 2012 weniger Babys zu Welt und der Abwärtstrend hält an. Indes ist in Ländern mit traditionell niedrigen Geburtenraten, wie etwa Malta, Spanien oder Italien, die Geburtenrate noch weiter abgefallen. Diese Ergebnisse fassen Sobotka und sein Team im neuen "European Demographic Data Sheet 2020" zusammen.
"Das Erschreckende ist, dass die wirtschaftliche Erholung ab 2012 keine Auswirkungen auf die Bereitschaft, Kinder in die Welt zu setzen, hatte", betont der Demograf. Er erklärt die Entwicklung mit veränderten Einkommensstrukturen. "Junge Menschen verdienen weniger gut und weniger regelmäßig als früher. Bei ihnen ist der Aufschwung ab 2012 nicht angekommen."
Geburtenraten gehen zurück
Dem ist aber nicht genug: Wegen der Coronavirus-Pandemie rechnet die OECD mit dem schwersten Einbruch der Weltwirtschaft seit 100 Jahren. Insbesondere Frauen in Branchen, die von der Coronakrise schwer getroffen sind - etwa Gast- und Beherbergungsgewerbe oder Handel - drohe das Prekariat, warnt Sobotka. "Typischerweise werden junge Erwachsene als erste aus Betrieben abgebaut. Im Spagat zwischen ökonomischen Engpässen und intensiven Betreuungspflichten wegen Schulschließungen verschieben sie (weitere) Kinder auf später", sagt der Demograf. "Die Geburtenraten werden in den nächsten zwei oder drei Jahren voraussichtlich noch weiter zurückgehen."
Inwiefern die Finanzkrise von 2008 die Einkommen der jüngeren Generationen anders traf jene der älteren Menschen, hat die Wiener Forschungsgruppe ebenfalls erhoben. Dabei wurde das altersspezifische Äquivalenzeinkommen für die Bewertung des wirtschaftlichen Wohlergehens verwendet. In zehn von 31 analysierten Ländern mussten junge Erwachsene zwischen 2008 und 2017 wirtschaftliche Einbußen hinnehmen. Am härtesten traf es junge Menschen in Griechenland: Sie erlebten mit 40 Prozent den stärksten Einkommensrückgang. Junge in Österreich und Deutschland waren laut den Forschern weniger stark betroffen. "Hier sank die Fertilitätsrate auch aufgrund von Zuwanderung nicht."
Zwar unterscheiden sich die Daten von Land zu Land, der allgemeine Trend aber lautet: Die Jungen werden ärmer als ihre Eltern. Betrachtet man die Zahlen aus einer Generationenperspektive, ging die relative wirtschaftliche Position junger Menschen zwischen 20 und 39 Jahren im Vergleich zu allen Erwachsenen sogar in 23 von 31 Ländern zurück. Darunter befinden sich neben Österreich alle Länder in West-, Süd- und Nordeuropa, mit Ausnahme der Niederlande.
"Schlecht bezahlte und instabile Arbeitsplätze, unbezahlbarer Wohnraum insbesondere in Städten, sinkende relative Einkommen und Sorgen um die Zukunft, etwa aufgrund des Klimawandels: Der anhaltende wirtschaftliche Druck und die Unsicherheiten, mit denen junge Erwachsene konfrontiert sind, tragen zu diesem Trend der sinkenden Geburtenraten bei", fasst Sobotka zusammen.