Zum Hauptinhalt springen

Wie der Massentest scheiterte

Von Simon Rosner

Politik

Die epidemiologische Maßnahme eines Bevölkerungsscreenings ist ein Experiment. Österreich stolperte aber in die Umsetzung. Das Protokoll eines Misserfolgs.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 4 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Am 31. Oktober und 1. November ist die Slowakei zum Pionier geworden. Als erstes Land setzt sie an diesen Tagen einen Massentest um. Bis dahin war das nur graue Theorie von Epidemiologen, konkret aus Harvard. Die Idee dahinter: einen Gutteil der Bevölkerung testen, und zwar mehrfach, die Infizierten isolieren, nach sechs Wochen könnte das Virus weitgehend eliminiert sein. Dank millionenfach vorhandener Antigen-Schnelltests ist diese Utopie seit Oktober tatsächlich möglich. Und die Slowakei schickt sich an, sie in die Realität umzusetzen. Mit dabei ist auch das österreichische Bundesheer, das beim Nachbarn einen Assistenzeinsatz leistet.

Daraus entsteht in Wien ein Gedanke: Warum nicht auch hier? Zwischen Kanzleramt, Gesundheitsressort und dem Verteidigungsministerium wird gefunkt. Minister Rudolf Anschober schickt einen Mitarbeiter zur Beobachtung in die Slowakei. Am 12. November findet auf Initiative des Bundeskanzleramts auch eine Telefonkonferenz mit dem slowakischen Gesundheitsministerium und der Armee statt. Auch das hiesige Verteidigungs- und Gesundheitsressort entsenden Vertreter. Tags darauf nennt Anschober den Massentest im "Kurier" ein "interessantes Konzept".

Aus der Idee macht Bundeskanzler Sebastian Kurz in der ORF-"Pressestunde" am 15. November dann eine Tatsache. Er kündigt die Tests bei Lehrern vor der Schulöffnung an sowie einen Massentest vor Weihnachten, um ein "möglichst sicheres Weihnachtsfest zustande zu bringen", wie er sagt. Was am Tisch der Pressestunde liegt, das pickt.

Zu diesem Zeitpunkt hat die Slowakei die Kehrtwende geschafft. Die Infektionszahlen fallen dramatisch. Aber durch den Massentest? Oder doch den gleichzeitigen Lockdown? Das ist zu diesem Zeitpunkt, Mitte November, unsicher. Erst am 4. Dezember wird vom slowakischen Gesundheitsministerium eine wissenschaftliche Studie dazu publiziert. Ein eindeutiges Ergebnis liefert diese zwar auch nicht, aber Modellierungen zeigen, dass der starke Rückgang mit Lockdown-Maßnahmen allein nicht zu erklären ist.

Doch von der Ankündigung des Kanzlers weg gelingt bei diesem Projekt nur noch wenig. Das Projekt wird in Österreich deutlich unter den Erwartungen bleiben. Der Misserfolg ist allerdings multikausal.

Martin Kocher forscht seit Jahren zur Verhaltensökonomie, einem noch eher jungen Teilgebiet der Wirtschaftswissenschaften. Aus dieser Perspektive betrachtet sei ein Massentest mit Wahlen vergleichbar. "Auch da habe ich Kosten, wenn ich zur Wahl gehe (Zeitaufwand, Anm.), aber mein Nutzen ist praktisch null", sagt Kocher. Eine einzige Stimme dreht in der Regel keine Wahl.

Auch der Test kostet Zeit, der Abstrich ist unangenehm, und zu etwa 99 Prozent wird er negativ sein, bringt also wenig. Und ist das Ergebnis positiv, hat es auch unerwünschte Folgen. Genau das sollte dann auch zur Vorverlegung der Massentests führen, doch dazu später.

Dass die Beteiligung bei Wahlen in Österreich trotzdem hoch ist und weit über jener des Massentests liegt, erklärt Kocher mit "sozialen Normen". Das Wahlrecht nicht auszuüben, ist gesellschaftlich eher verpönt. "Der Massentest ist was Neues gewesen." Es mag sein, dass die höhere Beteiligung in ländlichen Regionen gegenüber Städten auch mit wirksameren sozialen Normen dort zu erklären ist.

Um mehr Menschen zum Test zu bringen, waren für die zweite Runde im Jänner individuelle Anreize überlegt worden. Doch eigentlich hat Kurz auch in der "Pressestunde" genau das getan, als er vom "sicheren Weihnachtsfest" sprach. Denn die Unsicherheit, vielleicht unbemerkt infiziert zu sein und unterm Christbaum dann die Großeltern anzustecken, ist in vielen Familien groß. Auf die Ankündigung des Kanzlers hin melden sich aber postwendend Experten, die darauf hinwiesen, dass Antigentests nur für maximal 24 Stunden verlässlich sind. Wer am 19. Dezember negativ ist, kann am Heiligen Abend zum Spreader werden.

Bei der grundsätzlichen Idee eines solchen Screenings geht es aber gar nicht um "sichere Feste". Es ist eine experimentelle epidemiologische Maßnahme, um die Inzidenz zu senken. Das macht dieses Experiment grundsätzlich interessant. Ob es in der Realität funktioniert und das Infektionsgeschehen tatsächlich nachhaltig senken kann, ist aber nicht sicher. Bis heute nicht. Aber warum nicht probieren?

Kollektiver Nutzen stand nicht im Vordergrund

Eine Voraussetzung ist allerdings, dass sehr viele teilnehmen. Im Modell aus Harvard wird eine Beteiligung von 75 Prozent angenommen. Negative Anreize wie eine Quarantänepflicht bei Nicht-Teilnahme wie in der Slowakei will die Regierung hierzulande aber von Beginn an nicht setzen, sie betont sofort und mehrfach die Freiwilligkeit. Der positive Anreiz aber, das "sichere Weihnachtsfest", beginnt nach den Einwänden der Fachleute langsam zu zerbröseln.

Laut Kocher hätte man den kollektiven Nutzen in den Vordergrund stellen sollen. Denn genau darum geht es auch, weil im Idealfall viele Infizierte entdeckt werden können, die sonst etliche Cluster auslösen würden. Erst sehr spät, und nachdem die ersten Bundesländer bereits fertig waren, weisen Kurz und Anschober auf die nur geringen individuellen Kosten und den möglichen Nutzen für die Allgemeinheit hin. "Eine halbe Stunde Zeit muss uns das doch wert sein", sagt der Gesundheitsminister, fast flehend.

Der individuelle Vorteil ist leichter zu kommunizieren. Wer hingeht, erhält einen Gutschein. Fertig. Es ist aber nicht der einzige Weg, um eine hohe Beteiligung zu generieren. "Es gibt das Wissen über die konditionale Kooperation, dass mehr mitmachen, wenn sie wissen, dass andere auch mitmachen", sagt Kocher. Als Beispiel nennt er große, öffentliche Spendenaktionen. Gerade Österreich hat damit historisch gute Erfahrungen gemacht ("Licht ins Dunkel", "Nachbar in Not").

Doch für all das ist keine Zeit. Erst nach der Ankündigung am Sonntag wird überhaupt damit begonnen, die Details abzuklären. Am Dienstag (17. November) bespricht sich Anschober mit den Experten seines Fachbeirats, die er am Freitag, also vor der "Pressestunde", um Stellungnahmen zur Idee eines Massentests gebeten hat. Inzwischen ist dieser aber de facto beschlossen worden. Die Stellungnahmen der Experten fallen nicht positiv aus. "Ein wesentlicher Teil des Beraterstabs spricht sich gegen Massentestungen aus", heißt es im Protokoll. Als Grund dafür wird unter anderem die "falsche Zuversicht, ein normales Weihnachtsfest mit der Familie zu haben" genannt.

Der Bundeskanzler bleibt aber trotzdem, auch Tage danach, auf der "Weihnachts"-Botschaft. Es sei wichtig, Weihnachten zu retten, sagt er. Es folgen Gespräche mit den Sozialpartnern, der Ärztekammer, vorerst aber nicht mit jenen Gebietskörperschaften, die laut Verfassung eigentlich zuständig sind: mit den Bundesländern bzw. den regionalen Gesundheitsbehörden, die den Landeshauptleuten unterstellt sind.

Das ist nicht einfach vergessen worden, sondern zeugt von einem grundsätzlichen Problem des österreichischen Staatsgebildes, das sich auch in Sachen Massentests offenbart. In einer idealen Welt hätten die Länder ab dem ersten Brainstorming eingebunden gewesen sein müssen. "Aber so funktioniert die Kommunikationsstruktur nicht", sagt der Politologe Peter Filzmaier. Es gebe, anders als in großen Unternehmen, keine klaren Hierarchien zwischen den Gebietskörperschaften. Der Landtag untersteht nicht dem Nationalrat, der Landeshauptmann nicht dem Kanzler. Die Interessen sind unterschiedlich, Vertraulichkeit ist kaum gegeben.

Aus dem Kanzleramt heißt es zwar, dass es mit den Ländern "laufend Abstimmungsrunden auf Ebene der Mitarbeiter" gab, die erste Konferenz mit den Landeshauptleuten findet jedoch erst am Montag, dem 23. November, statt, mehr als eine Woche nach der "Pressestunde". Bilateral kommuniziert der Kanzler immer wieder mit Landeschefs, es handelt sich dabei aber eher selten um Hans Peter Doskozil und Michael Ludwig, beide von der SPÖ.

Politischer Wettbewerb versus Krisenkommunikation

"Es ist ein unlösbares Problem", sagt Filzmaier. Ist der Kreis von Beginn an groß, dann besteht auch die Gefahr, dass das Thema, mit einem gewissen Drall angereichert, an die Öffentlichkeit gelangt. Informiert man Länder und Gemeinden spät, klagen diese, nicht eingebunden zu sein, was teilweise tatsächlich auch die Umsetzungen oft erschwert, gerade wenn die Zeit knapp ist. Dazu kommt der politische Wettbewerb. "Im Aktion-Reaktion-Schema muss ich der Erste sein", sagt Filzmaier. Kurz gilt in Sachen Agendasetting generell als Meister, zumindest in der österreichischen Liga. Doch genau dieses der Politik inhärente Schema passt nicht zu Krisenkommunikation. Es ist ein Dilemma, und das war es auch im konkreten Fall der Massentests.

Im Gegensatz zu den Ländern ist das Bundesheer bei dem Projekt von Beginn an dabei. Die Regierung beauftragt sogar ein Konzept für die Umsetzung. Eine Kurzversion erhalten am Freitag (20. November) auch die Medien - und danach praktisch wortident die Länder. In dem Papier steht: "Die organisatorische und logistische Abwicklung der Massentests liegt beim Bundesheer." Das wäre klar verfassungswidrig, darauf weist auch Verfassungsrechtler Peter Bußjäger auf Twitter hin. Vom Bundesheer heißt es, dass bei so einem Projekt eine zentrale Koordinierung nötig ist. So kommt es aber nicht.

Das Land Vorarlberg erklärt in der Videokonferenz mit den Ländern drei Tage später, dass man den Test vorziehen wolle, weil vor Weihnachten sonst die Angst regiere, just zum Heiligen Abend in Quarantäne zu sein. Und überhaupt könne man den Test auch selbst organisieren. Zwei Tage später teilen Vorarlberg und Tirol mit, am ersten Dezember-Wochenende den Test abzuwickeln. Auch die anderen Bundesländer sind vom Argument der Weihnachtsquarantäne überzeugt. Wien startet ebenfalls am 4. Dezember.

Der Anreiz vom "sicheren Weihnachtsfest" ist damit gänzlich passé. Aber worum geht es dann bei diesem Test? Das bleibt für viele zu nebulös. Die Pandemie sei mit den Tests nicht am Ende, sagt Kurz, man könne aber "Infektionsketten durchbrechen". Man dürfe, so Anschober, die Massentests "nicht isoliert" sehen, sie seien ein Teil eines Gesamtkonzepts. Welches, bleibt offen.

Ein (öffentliches) Wirkungsziel dieser Tests gibt es nicht. Bis heute. Das ist bei einem Experiment verwunderlich. Die wirkungsorientierte Steuerung ist seit Jahren das oberste Leitprinzip der Verwaltung, um die Effektivität staatlichen Handelns überprüfen zu können. Doch wann ist der Massentest ein Erfolg? An welchen Kennzahlen kann man diesen messen? An der Beteiligung? Dem Rückgang der Inzidenz?

Auf dem nur kurzen Weg von der Idee zur Umsetzung tauchen eine Reihe von Fragen auf. Laut Gesundheitsministerium habe man die Hinweise der Experten auch berücksichtigt, darunter die Forderung nach Wiederholung dieser Testung, klare rechtliche Rahmenbedingungen, eine Kommunikation, um zu vermeiden, dass es zu einer Fehlinterpretation von negativen Testergebnissen kommt. Auch Nachtests bei positiven Resultaten werden beschlossen, um die erwarteten falsch positiven Befunde zu erkennen.

Wien fordert den Bund heraus

Dazu kommt, dass einige Länder ein Anmeldesystem vom Bund fordern, um Warteschlangen zu vermeiden. In der Slowakei war genau das passiert. Es bildeten sich Ansammlungen und lange Wartezeiten, was epidemiologisch bedenklich ist.

Es passiert zwar kein gänzlicher Alleingang der Bundesländer, aber unterschiedliche Umsetzungen. Vor allem Wien gibt sich zunächst betont unbegeistert. Man bestellt beim Bund ein elektronisches Anmeldesystem, obwohl solche Systeme auch in Wien vorhanden wären. Es gibt sie bei der Grippeimpfung und auch für Termine für Tests bei den mehr als ein Dutzend Corona-Checkboxen. Die Stoßrichtung: Der Bund bestellt, also soll er auch liefern.

Das Ergebnis des eilig programmierten Anmeldesystems ist, dass es zum Start zusammenbricht und sich außerdem ein Datenleck auftut. "Die Computerfehler waren ein Dämpfer, das hat einige Prozentpunkte an Beteiligung gekostet", sagt Kocher. Tirol verzichtet gänzlich auf eine Online-Anmeldung und verschickt Strichcodes per Post, Oberösterreichs Landeshauptmann Thomas Stelzer beschwert sich öffentlich über den Bund. Es sei unglaublich, "welche Pannen passieren und was uns in den Weg gelegt wird bei unserem Bemühen, das alles bürgerfreundlich umzusetzen". Den "Zentralisten" empfiehlt Stelzer, "sich beschämt in ein dunkles Eck zurückzuziehen".

Eine koordinierte Kommunikation gibt es nicht. Die Regierung schaltet zwar Inserate, dass allerdings Kärnten kurzfristig einen weiteren Testtag hinzugenommen hat, wird übersehen. Das Land Oberösterreich geht eigene Wege und wirbt martialisch mit "Echte Helden lassen sich testen".

Eine zielgruppenorientierte Kommunikation findet nicht statt. Eine solche Kampagne bräuchte auch Zeit. "Parteien haben über Jahrzehnte gelernt, nur mögliche Sympathisanten anzusprechen", sagt Filzmaier. Türkis und Grün erreichen nicht alle, einen nationalen Schulterschluss in Sachen Tests gibt es nicht. Die FPÖ ruft in einem ersten Impuls sogar zu einer Art Boykott auf, zieht das aber wieder zurück.

Man müsse die Zivilgesellschaft einbinden, sagt Filzmaier, das heißt, möglichst viele Vereine, Verbände, je mehr, desto besser. Auch das passiert nicht. Die Sozialpartner rufen zwar einmal gemeinsam zur Teilnahme auf, wesentliche dienstrechtliche Fragen bleiben aber ungeklärt. Kann man während der Arbeitszeit zum Test gehen? Was passiert bei einem positiven Antigentest?

Die Umsetzung selbst funktioniert gut. Es gibt positive Rückmeldungen, und auch in Wien, wo man doch skeptisch war, wird die Zusammenarbeit mit dem Bundesheer explizit gelobt. Aber nur 22,6 Prozent der Menschen in Österreich beteiligten sich, 4.200 Personen wurden positiv getestet. Die positiven Funde des Massentests werden aber nicht markiert in die Statistik eingepflegt. Es führt dazu, dass die Fallzahlen vorübergehend wieder steigen. Aber nur wegen des Massentests? Oder weil auch der Lockdown zu Ende war? Das bleibt unklar, was die epidemiologische Überwachung erschwert. Eine wissenschaftliche Begleitung wie in der Slowakei, bei der immerhin die renommierte London School of Hygiene & Tropical Medicine mitwirkte, gibt es in Österreich nicht. Das Linzer Market-Institut erhob immerhin Motive für die Teilnahme bzw. Nicht-Teilnahme. Die Ergebnisse könnten für die zweite Runde wichtig sein.

In der Slowakei steigen mittlerweile die Infektionszahlen, und zwar nachhaltig. Die Bevölkerung will aber laut Umfragen sogar lieber einen Lockdown als weitere Testrunden. Österreich wird diese zweite Runde dennoch drehen, sie wird im Jänner absolviert. Welche Zielsetzung es dafür gibt, hat die Bundesregierung bisher aber noch nicht verraten.