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Wie der Mensch in akuten Krisensituationen tickt

Von Eva Stanzl

Wissen

Kombination von Faktoren bestimmt das Verhalten im Extremfall. | Biologisch ist der Mensch ein soziales Wesen. | Wien. "Schaut, was ich tue - ich bin zum Dieb geworden weil meine Kinder sonst nichts zu Essen haben", erklärt ein Familienvater, Plündergut in den Händen, vor laufender Kamera in der Erdbeben-verwüsteten chilenischen Stadt Conception.


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Was muss der Fall sein, damit ein Mensch seine Hemmschwelle überschreitet und moralische Kriterien über Bord wirft? Bruno Frey, Wirtschaftswissenschafter an der Universität Zürich, ist überzeugt: Stress spielt eine Rolle. Bei akuten Gefahren veranlasst das Gehirn die Freisetzung von Adrenalin, das zur Überlebenssicherung Herzschlag, Muskelanspannung und Atmungsfrequenz erhöht.

Frey hat den Untergang der Passagierschiffe "Titanic" und "Lusitania" verglichen. Obwohl beide Kapitäne die Losung ausgaben, Kinder und Frauen zuerst in die Boote zu lassen, hielt man sich offenbar nur auf der "Titanic" daran. Ihr Untergang dauerte zwei Stunden 40 Minuten im Unterschied zu 18 Minuten bei der "Lusitania", wo auffallend mehr junge Männer und Frauen überlebten.

Doch Zeit ist nicht alles. Der Wiener Psychologe und Trauma-Therapeut Peter Schütz verweist auf eine Kombination von Faktoren, die dazu beitragen, ob sich ein Mensch bei Katastrophen aus sozialen Normen ausklinkt. "Neben der Zeitachse sind der soziale Kontext, das innere Wertesystem, die Gruppendynamik, Training und wie der Umgang mit Grenzüberschreitungen organisiert ist ausschlaggebend", so Schütz.

Frage der Loyalität

Der Mensch taktet nicht nach seinen inneren Werten allein. Sondern wenn 50 Menschen plündern, lässt er sich mitreißen. Wer das nicht tut, muss ein ungewöhnlich ausgeprägtes Normengefühl haben. Dazu kommt die Frage, wem gegenüber man loyal ist.

Ein Drama, das seit 30 Jahren fasziniert und schockt, ist der Flugzeugabsturz in den Anden. Eine Rugbymannschaft aus Uruguay und ein paar Angehörige stürzen am 13. Oktober 1972 auf dem Flug von Mendoza nach Santiago de Chile auf 4200 Metern über dem Meer ab. Von den 45 Reisenden überlebten 27. Doch sie müssen 72 Tage lang im Schnee auf ihre Rettung warten. Um nicht zu verhungern, aßen sie die Körper der Toten, die vor dem Flugzeug lagen.

"Es ist im Nachhinein erstaunlich, wie lange wir brauchten, um das zu realisieren. Es gibt im Gehirn offenbar Grenzen, die nur langsam überschritten werden", berichtete später einer der Überlebenden, Nando Parrado: "Mein Blick fiel auf die Wunde am Bein eines Knaben, der neben mir lag. Der Kopf schrie Nein! Aber der Körper sagte Ja. Und der Körper war endlos viel stärker."

"Den Überlebenden half absolut niemand. Andere Möglichkeiten, weiter zu überleben, waren völlig außer Kraft gesetzt und die Zeit war sehr lang. Man wählt die jeweils bestmögliche Variante", sagt Schütz.

Biologisch gesehen ist der Mensch ein soziales Wesen - so lange die Strukturen funktionieren. "Die Gruppe bietet den besten Schutz. Doch der Mensch muss sie überblicken können, um in ihr zu operieren", sagt Hannes Paulus, Leiter des Departments für Evolutionsbiologie der Universität Wien. Um sich auch mit großen Gruppen identifizieren zu können, schafft er Strukturen wie Rechtssysteme. Brechen sie zusammen, gewinnt der Egoismus und er regiert so lange, bis sie wieder funktionieren. Und Sicherheit bieten.