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Wie die Chemie sich selbst erneuert

Von Eva Stanzl

Wissen
Blumen vor Erdölpumpen auf einem Ölfeld: Erneuerbare Rohstoffe müssen chemisch so verfeinert werden, dass sie das Rohöl in nahezu allen Bereichen kostengünstig ersetzen können. Foto: Lo Mak/Redlink/Corbis

Das Fach gilt als Basis für Industrie, Wirtschaft und Forschung. | Experte Keppler: "Die Rohstoffknappheit kann nur mit Chemie gelöst werden." | Wien. Nützt Chemie uns - oder schadet sie vielmehr? Der Skandal um Dioxin in deutschen Futtermitteln lässt vermuten, dass sie beizeiten mehr schadet, als sie nützt. Im Rahmen des internationalen Jahres der Chemie 2011 sollen hingegen die nützlichen Seiten des Fachs zelebriert werden. Kommende Woche gibt das Wissenschaftsministerium den Auftakt in Wien.


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Im Vorjahr feierte man das Jahr der Biodiversität und 2009 das Jahr der Astronomie. Warum heuer jenes der Chemie? Weil vor genau 100 Jahren Marie Curie für ihre Entdeckung der chemischen Elemente Polonium und Radium der Nobelpreis für Chemie zuerkannt wurde. Eine Begeisterung für das Fach, das als einzige Wissenschaft neue Stoffe erschaffen kann, folgte. Neuen Verbindungen wie Lacke, Bodenbeläge, Kleider- und Treibstoffe verbesserten den Alltag. Doch der Enthusiasmus wich einer kritischen Grundhaltung, als sich die Gesellschaft an den Komfort gewöhnt hatte. Umweltschäden durch Chemikalien, welche der Mensch wiederum selbst zu verantworten hatte, machten und machen in zunehmendem Ausmaß Schlagzeilen.

Insgeheim atmet die Welt der Chemiker also heuer über einen Platz an der Sonne auf. Der ihnen - trotz tragischer Negativ-Folgen von Unfällen - zusteht. Denn "die Chemie ist die Basiswissenschaft für die Gesellschaft", sagt Bernhard Keppler, Dekan der Fakultät für Chemie an der Universität Wien.

Es ist die drittgrößte Industrie Österreichs, die ihrerseits wiederum in sämtliche Industriezweige hineinwirkt - von Autozulieferern über Papierhersteller bis hin zur Computer- und Pharmaindustrie. "Die wirtschaftlichen Probleme der in Zukunft, ganz besonders die Rohstoffknappheit, können nur mit der Chemie gelöst werden", betont Keppler.

Ein Hauptaugenmerk des Fachs gilt heute dem Ersatz von Rohöl durch andere chemische Verbindungen.

In allen Bereichen, in denen es Alternativen zu Rohöl gibt, wie etwa das Heizen, müsse dieses rigoros eingespart und ersetzt werden, sagt der Dekan. Die Chemie müsse nun entschlüsseln, wie nachwachsende Rohstoffe so verarbeitet werden können, dass sie weltweit und kostengünstig einsetzbar werden. Weiters müsse Rohöl als Grundmaterial in Lacken, Innenausstattungen, Kunststoffen, oder Transportmitteln flächendeckend durch chemische Produkte ersetzt werden, denen wiederum natürliche Rohstoffe wie Holz als Basis dienen.

Hälfte der Medikamenteberuhen auf Rohöl

In der Medizin stehen die Chemiker hingegen vor einem Problem. In etwa der Hälfte aller Arzneien - von der Tablette bis zum Infusionscocktail - beruhen auf chemischen Produkten, deren Grundstoffe auf Erdöl beruhen. Für sie muss die Chemie einen Ersatz finden, den es derzeit noch nicht gibt. In diesem Sinn muss sich die Chemie also selbst erneuern. Und für ihre eigenen Verbindungen neue Grundamaterialien finden. Das könnte freilich noch länger dauern als die Arbeit an neuen Brennmaterialien zum Heizen von Häusern. "Der zeitliche Vorlauf beträgt nicht Jahre, sondern Jahrzehnte", sagt Keppler.

In Anbetracht der personellen Kapazitäten durfte die Mammutaufgabe nur schwer zu bewältigen sein. An der Uni Wien sind heuer 1000 Studierende in Chemie inskribiert. Der Dekan betont, dass praktisch alle Uni-Absolventen hierzulande sofort vom Arbeitsmarkt aufgenommen werden.

Doch nicht nur hierzulande scheint die Chemie schlecht gerüstet zu sein, um auf die brennenden aktuellen Fragen Antworten zu finden, attestieren George M. Whitesides von der Universität Harvard in Cambridge, Massachusetts, und John Deutch vom Massachusetts Institute of Technology in einem Kommentar in "Nature".

Die chemische Industrie habe sich in den letzten 100 Jahren zwar etabliert, doch verharre sie nun zu sehr in ihren bestehenden Strukturen. Das äußere sich darin, dass sie sich zu sehr um die Grundlagen und zu wenig um die Anwendung kümmere. So sei das Fach etwa beim Bestimmen chemischer Strukturen weit fortgeschritten. Doch sie suche zu wenig nach dem praktischen Nutzen der geschaffenen Moleküle - etwa um den Blutdruck zu senken oder Licht in Strom umzuwandeln.

Realitätsfremde Trennung von Forschungsbereichen

Keppler hält die viel diskutierte Polarität zwischen Grundlagen- und angewandter Forschung im Fall der Chemie für realitätsfremd: "Wir müssen immer im Hinterkopf haben, wie wir ein Molekül so verändern können, dass wir bestimmte Eigenschaften erzielen. Hier ist ein tiefgreifender Wandel im Gange. Jedes Mal, wenn wir ein neues Ausgangsmaterial finden, geht es auch darum, was wir damit tun können."

Als eine der spannendsten Entdeckungen der Chemie gilt derzeit Graphen - eine Form von Kohlenstoff, die nur ein Atom dick ist. Die Substanz gilt als das dünnste, stärkste und zugleich steifste Material und als exzellenter Leiter für Hitze und Strom. Südkorea will nun die Graphen-Produktion nun kommerzialisieren und Elektronik-Konzerne testen das Material als Ersatz für den Silikon-Chip. Denn: "Es gibt kein Problem, zu dessen Lösung die Chemie nicht beitragen kann", so Whitesides und Deutch.

Laut der Royal Society of Chemistry in London sind sogar 20 Prozent des britischen Bruttoinlandsprodukts auf die Arbeit von Chemikern zurückzuführen.