Wenn die EU-Staats- und Regierungschefs heute über die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei beraten, werden wirtschaftliche Überlegungen eine herausragende Rolle spielen. Doch die Frage, ob der Kandidatenstaat als armes oder wirtschaftlich schnell wachsendes Land beitreten wird, werden sie derzeit wohl kaum klären können.
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Es war nicht zuletzt der damalige finnische EU-Ratspräsident Paavo Lipponen, der der Türkei die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen ohne zusätzliche Auflagen zusicherte. "Es ist mir eine Freude, Ihnen unseren Beschluss mitteilen zu können, wonach wir der Türkei den Status eines Beitrittswerbers zu den selben Konditionen anbieten, die auch für die anderen Bewerberländer festgelegt wurden", schrieb er 1999 an den damals regierenden Ministerpräsidenten Bülent Ecevit. Ankara vernahm dies gern - und pocht auch heute auf "gleiche Behandlung".
Problem Landwirtschaft
Doch die Skepsis in der Bevölkerung einiger EU-Staaten ist groß, was die Regierungen dazu bringt, Sonderregelungen für die Türkei zu fordern. Zu arm, zu groß, zu anders sei das Land, um es anderen Kandidatenstaaten gleichzustellen, lautet die Argumentation. Die finanziellen Belastungen für das EU-Budget wären - auch wegen der Osterweiterung im Mai - enorm. Denn das türkische Pro-Kopf-Einkommen beträgt lediglich ein Drittel der EU-Durchschnitts. Doch selbst die ärmsten neuen EU-Mitglieder, Polen, Lettland und Litauen, brachten es auf 40 Prozent.
Anpassungsprobleme wird es auch in der Landwirtschaft geben. 35 Prozent der Fläche werden landwirtschaftlich genutzt. 44 Prozent der Beschäftigten erwirtschaften aber nur 13,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Allein die Agrarsubventionen für die Türkei könnten pro Jahr 11,3 Milliarden Euro betragen, warnte der ehemalige Agrarkommissar Franz Fischler.
Hoffnung Wirtschaft
Doch bis zu einem Beitritt der Türkei vergehen noch mindestens zehn Jahre - und bis dahin werde die türkische Wirtschaft weiter wachsen, wenden die Befürworter einer Aufnahme des Landes ein. In den vergangenen zwei Jahren betrug der Zuwachs im Durchschnitt 8,5 Prozent. Die Inflation liegt erstmals seit langem unter zwölf Prozent. Und ein Beschluss von Beitrittsverhandlungen könnte den Handel ankurbeln. Amtlichen Schätzungen zu Folge sollten ausländische Anleger heuer 2,9 Mrd. Dollar in der Türkei investieren. Zwischen 2005 und 2007 könnte sich die Summe auf 15 Mrd. Dollar erhöhen. Als attraktiver Markt gilt das Land jetzt schon. Zudem könnte dessen Lage nahe der energiereichsten Region der Welt die Versorgung der EU mit Öl und Gas verbessern. Zusammenarbeit auf dem Energiesektor wurde bereits durch die Einbindung in die so genannte Energie-Gemeinschaft vereinbart.
Erst vor zwei Tagen haben sich die Türkei und der Internationale Währungsfonds (IWF) auf ein Kreditprogramm in Milliardenhöhe geeinigt. Damit soll dem Land der Schuldendienst für bestehende Verbindlichkeiten erleichtert werden, wenn das laufende IWF-Programm im Volumen von 19 Mrd. Dollar im Februar ausläuft. Der neue Bereitschaftskredit über zehn Mrd. Dollar hat eine Laufzeit von drei Jahren.
Angstfaktor Migration
Auf der anderen Seite fürchten die Skeptiker um ihren Arbeitsmarkt. Bereits jetzt leben mehr als drei Millionen Türkinnen und Türken in der Europäischen Union. Um einen "ungebremsten Zustrom von billigen Arbeitskräften" nach dem Beitritt zu verhindern, wollen einige EU-Staaten daher Sonderregelungen bei der Personen-Freizügigkeit. Doch mit einer Mitgliedschaft der Türkei steige auch der Lebensstandard dort, die Arbeitsmöglichkeiten werden zahlreicher, antworten Befürworter. Und die Ängste vor einer Massenmigration erwiesen sich schon nach dem EU-Beitritt Portugals und Spaniens als unbegründet.
Ein Zusammenprall unterschiedlicher Anforderungen ist nicht nur auf wirtschaftlicher sondern auch kultureller sowie religiöser Ebene denkbar. Auch wenn die Türkei ein laizistischer Staat ist und, wie in Europa sonst nur Frankreich, das Kopftuchverbot eingeführt hat - der Islam spielt im Leben weiter Teile der türkischen Bevölkerung eine große Rolle. Eine Integration in europäische Strukturen wäre erschwert, meinen die Gegner eines EU-Beitritts. Dafür könnte das Land eine Brückenfunktion zwischen der islamischen und der christlichen Welt übernehmen, erwidern Befürworter.
Die Situation von Minderheiten, die Demokratisierung des Landes und die Menschenrechtslage will die EU genau beobachten. Zwar möchte die Türkei nach der Annahme einer Strafrechtsreform geforderten EU-Standards entsprechen. Doch die Umsetzung von Gesetzen nimmt immer mehr Zeit in Anspruch als ihr Beschluss im Parlament.