Nicht nur ein einzelner Mensch, auch eine Gesellschaft hat ein Gedächtnis. Dieses kollektive Gedächtnis setzt sich aus verschiedenen Elementen zusammen, zu denen unter anderem ein Nationalfeiertag gehört. Eine Bestandsaufnahme.
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Erinnerung an Vergangenes, so könnte man es auf eine kurze Formel bringen, schafft Identität. Eine Gelegenheit dazu bietet der morgige Tag. Der 26. Oktober, seit 1965 als österreichischer Nationalfeiertag begangen, erinnert an jenes Datum, an dem zehn Jahre zuvor das Gesetz zur österreichischen Neutralität beschlossen wurde. Zugleich war es der erste Tag, an dem keine fremden Truppen mehr auf österreichischem Hoheitsgebiet stehen durften. Zwar war noch ein Häufchen britischer Soldaten im Land, aber deren Verabschiedung ein paar Tage später ließ man offiziell unter den Tisch fallen und so fand sie auch keinen Einzug in die allgemeine Erinnerungskultur. Die Neutralität, mag sie realpolitisch so gut wie keine Rolle mehr spielen, hat sich im Bewusstsein der Bevölkerung als ein wichtiger Wert verankert. Die alljährliche Gedenkveranstaltung festigt sie als Teil des österreichischen Selbstverständnisses.
Gewiss gibt es für den Einzelnen auch andere identitätsstiftende Inhalte und Attribute – vom Staatsbürgerschaftsnachweis über den Beruf bis zum Status innerhalb einer sozialen Gruppe –, aber ohne Erinnerung fehlt die wesentliche Orientierung für das eigene Sein. Was für das Individuum gilt, trifft auch auf große Institutionen wie Staaten, politische Parteien, Religionsgemeinschaften und Unternehmen zu. Um sich als wertverbindliche Gemeinschaften zu verstehen, benötigen sie aus ihrer Geschichte gespeiste Bezugspunkte, deren allgemeine Akzeptanz und Internalisierung sich zum kollektiven Gedächtnis verfestigen. Anders als beim individuellen Gedächtnis gibt es dort nichts, was der neuronal-biologischen Fähigkeit, Erinnerungen zu evozieren, entspricht. Das kollektive Gedächtnis ist ein Konstrukt, dessen Teile bewusst ausgewählt und als Symbol oder Ritus kalkuliert eingesetzt werden. Es verfügt über keine synaptische Vernetzungsmöglichkeit, sondern ist meist geradezu darauf ausgelegt, sich von anderen, konkurrierenden Gedächtniskonstrukten abzugrenzen. Es ist keinem organischen Wachstums- oder Schrumpfungsprozess unterworfen, wohl aber dem oktroyierten Wandel, wenn die Zeitläufte es erfordern.
Der französische Soziologe Maurice Halbwachs (1877 – 1945, ermordet im KZ Buchenwald), der die These vom kollektiven Gedächtnis in der soziologisch-psychologischen Aufbruchsstimmung des beginnenden 20. Jahrhunderts wesentlich prägte, erkannte, dass sich unser Gedächtnis nur im Umgang mit anderen entwickelt. Jeder Einzelne ist von Geburt an in verschiedenen Gruppen wie der Familie, der Ethnie und der Nation eingebettet und immer schon Teil größerer Zusammenhänge. Im weiteren Verlauf des Lebens kommen Partizipationen an Gemeinschaften wie etwa der Schule, der Kirche, dem Sportverein, der Universität, dem Arbeitsplatz oder dem Bundesheer dazu. In kleinen Einheiten wie der Familie oder dem Freundeskreis entwickeln wir ein soziales Gedächtnis, indem aus unterschiedlichen Blickwinkeln ein Austausch über einen gemeinsamen Erfahrungsschatz stattfindet. Das soziale Gedächtnis wird durch das Gespräch im Bewusstsein gehalten, und es überdauert nur wenige Generationen: Es löst sich auf, wenn die Wissensträger sterben.
Das kollektive Gedächtnis hingegen ist – zumindest prinzipiell – auf lange Zeit ausgelegt. Es differenziert wenig, spitzt zu und lässt Erinnerung nicht selten zum verklärenden Mythos werden. Ob siegreich geschlagene Schlachten, religiöse Märtyrer, herausragende gesellschaftliche Persönlichkeiten, wichtige Institutionen oder historische Ereignisse mit besonderem Stellenwert – die Entscheidung über die Erinnerungswürdigkeit bedeutet immer auch bewusste Exklusion. Die Einseitigkeit der Betrachtung, durch die das Selbstbild positiv verstärkt wird, blendet Feinheiten vorsätzlich aus, weil nur das Eindeutige zu metaphorischen Grenzpflöcken und Leuchttürmen taugt.
Wenn Friedrich Nietzsche von der Vergesslichkeit als "Aufrechterhaltung der seelischen Ordnung" gesprochen hat, so sah er darin die mit dem Vergessen einhergehende Grenzziehung zwischen Wichtigem und Unwichtigem. Jemand, so meinte er, der zu dieser Trennung nicht mehr fähig ist, verliere seine Identität. Das menschliche Gedächtnis geht seiner Erinnerungen passiv verlustig, das Konstrukt des kollektiven Gedächtnisses erfährt aber seine Prägung erst dadurch, indem es diese scharfe Trennlinie durch bewusstes Vergessen zieht.
Was erinnerungswürdig und einer Gemeinschaft dienlich ist, wird durch rituelle Wiederholung individuell verinnerlicht und kollektiv konserviert. Zu diesem Zweck werden Feiertage, Jubiläen, Gedenkveranstaltungen und kirchliche Festtage – zuweilen auch in Form von Aufmärschen oder Prozessionen – begangen. So legen am morgigen Nationalfeiertag höchste Repräsentanten des Staates Kränze nieder, Rekruten werden angelobt, eine Informations- und Leistungsschau des Heeres dominiert den Heldenplatz. Parlament, Präsidentschaftskanzlei und Bundeskanzleramt bitten zum "Tag der offenen Tür", Museen können kostenlos oder zu ermäßigtem Eintritt besucht werden, eine Lichterprozession führt am späteren Nachmittag zum Festgottesdienst im Stephansdom. Und wer an all diesen Veranstaltungen nicht teilnimmt, kann sich vielleicht von den zahlreich stattfindenden Fitmärschen eine urkundliche Anerkennung mitnehmen.
Auch Straßennamen und Denkmäler sind Symbole eines staatlich festgelegten Wertekanons, ändert er sich, werden sie entfernt oder geschleift. Was für die Ewigkeit angelegt schien, wird im Falle eines politischen Systemwechsels hinweggefegt. Auch die Wissensvermittlung durch öffentliche Bildungseinrichtungen wie Schulen und Universitäten sowie die Pflege der kulturellen Gebräuche unterliegen einem – meist gemächlichen – Wandel. Kommt es jedoch zu einem radikalen Umbruch, erfahren sie eine ebenso radikale Revision. Das kollektive Gedächtnis ist manchmal nur von kurzer Dauer. Die politischen Zäsuren, die Österreich im 20. Jahrhundert erfahren hat, haben auf Grund ihrer raschen Abfolge Kerben oft in einem einzigen Menschenleben hinterlassen. Kerben, die diese Menschen als schmerzvolle Brüche ihrer Biografie erlebt haben. Was im Sinne einer allgemein gültigen neuen Gegenwartsdeutung nach jedem Kerbenschlag entsorgt wird, trägt das individuelle und soziale Gedächtnis inoffiziell weiter, wodurch es zuweilen in Opposition zum gepflogenen gesellschaftlichen Konsens gerät.
Eine die Gemeinschaft festigende Erinnerung richtet meist sich an Glanz und Gloria aus. Aber auch die Niederlage, sofern sie ruhmreich war und sich zu einem heldenreichen Opfermythos stilisieren lässt, eignet sich als memorabler Bezugspunkt. Die Niederlage gegen das Osmanische Heer in der Schlacht am Amselfeld 1389 wurde bald zum serbischen Nationalmythos, die österreichische Sozialdemokratie begeht in stolzer Erinnerung an die schlussendlich dem Artilleriehagel erlegene demokratieverteidigende Wehrhaftigkeit den 12. Februar, die Tschechen gedenken ihres Aufstandes von 1968 ebenso wie die Deutschen jenes in der DDR von 1953 und die Ungarn des ihren 1956 – auch wenn sie samt und sonders von der Staatsgewalt niedergeschlagen oder von Panzern niedergewalzt wurden.
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelten sich nach der Tragödie zweier Weltkriege neue Formen der allgemeinen Erinnerung. Nun bestimmte nicht mehr, wie über Jahrhunderte üblich, die aus der Rückschau auf glorreiche Siege und heroische Niederlagen gezogene Sinnstiftung die Gedenkkultur, sondern auch die Anerkennung von zugefügtem und erlittenem Leid. Nach traumatischen Geschichtserfahrungen, die neben den kriegerischen Handlungen zu rassischen Verfolgungen und Gräueltaten gegen Andersartige führten, wird das Gedenken nicht mehr allein vom Glanz des Triumphators und dem Mitgefühl für die Opfer geprägt, sondern auch von der Scham der Täter. Nicht im Vergessen, sondern im gemeinsamen Erinnern wachsen Reue und Vergebung als Voraussetzung für eine – im Optimalfall – ausgesöhnte Koexistenz. In der Rückbesinnung spiegeln sich aktuelle gesellschaftliche Werte wider. Gedächtnisarbeit bedeutet immer auch, eine moralische Verpflichtung für die Gegenwart einzugehen.
Mittlerweile haben sich durch die zunehmende Transnationalität die Gedenkmuster weiter verändert. Staaten agieren vernetzter, kulturelle Werte suchen nach universaler Gültigkeit, die Konstruktion des an der Nation orientierten kollektiven Gedächtnisses verliert an Bedeutung. Ob sich dieses in der Weitläufigkeit einer globalisierten Welt zunehmend auflösen oder sich an kleinen Einheiten als menschliche Sehnsuchtsorte des sozialen Eingebundenseins orientieren wird, ist strittig. Wir erleben derzeit einen sprichwörtlich grenzenlosen Perspektivenwechsel und eine multikulturelle Fragmentierung bislang großteils homogener Gesellschaften. Anerkannte Minderheiten sowie andersethnische und fremdnationale Communities identifizieren sich nur teilweise mit den verbindenden Riten und Symbolen der Leitkultur oder leben zur Gänze in einer ihren Sitten und Gebräuchen entsprechenden Parallelgesellschaft, sodass von einem gemeinsamen kollektiven Gedächtnis nicht mehr gesprochen werden kann. Wie die zahlreichen aktuellen Protestaktionen gegen Bezirks- und Gemeindezusammenlegungen in der Steiermark zeigen, reicht aber auch schon ein kleiner Eingriff in die Symbolsprache wie die Buchstabenänderung auf den Autokennzeichen aus, um einen nahezu subversiven Rückzug auf eine an Schollenverbundenheit erinnernde Gedenktradition zu provozieren.
Vergabe von Straßennamen
Quelle: Kulturabteilung der Stadt Wien (MA 7)
Benennungen von Verkehrsflächen können Symbole des kollektiven Gedächtnisses sein, in denen ein den gesellschaftlichen und kulturellen Werten entsprechendes Gedenken zum Ausdruck gebracht wird. Umbenennungen bereits bestehender Verkehrsflächen sind möglich, aber selten. In Wien können Vorschläge bei der entsprechenden Bezirksvorstehung eingereicht werden, wobei seitens der lokalen Kulturkommission Wert auf einen Bezug des Namens zum Bezirk gelegt wird. In weiterer Folge leitet die Kulturabteilung der Stadt Wien ein Prüfverfahren ein, dem sich eine Vorberatung im Unterausschuss für Verkehrsflächenbenennungen anschließt. Die endgültige Entscheidung erfolgt im Gemeinderatsausschuss für Kultur und Wissenschaft. Die Benennung nach einer Person ist frühestens ein Jahr nach deren Ableben möglich.
Artikel erschienen am 25. Oktober 2013 In: "Wiener Zeitung", Beilage "Wiener Journal"
26. Oktober
Der 26. Oktober wird seit 1965 als österreichischer Nationalfeiertag begangen, seit 1967 ist er arbeitsfrei. Entgegen einer weit verbreiteten Meinung wird an diesem Tag nicht des Abzugs des letzten Besatzungssoldaten gedacht, sondern des Beschlusses des Neutralitätsgesetzes. Die letzte besetzte Kaserne, jene in Klagenfurt-Lendorf, wurde offiziell am 25. Oktober 1955 von den Briten verlassen – dem letzten Tag der mit der abschließenden Ratifizierung des Staatsvertrags am 27. Juli 1955 durch die Franzosen vereinbarten 90-Tage-Frist, innerhalb der die Besatzungsmächte aus Österreich abgezogen sein mussten. Inoffiziell waren noch am 29. Oktober etwa 20 britische Soldaten verabschiedet worden. 1955 wurde noch der 25. Oktober mit landesweit gehissten Fahnen feierlich begangen, ab 1956 ordnete man dem Neutralitätsgesetz eine höhere Priorität als dem Abzug der letzten Besatzungsmacht zu und beging bis einschließlich 1964 den 26. Oktober als "Tag der Fahne". Zur Auswahl für einen Nationalfeiertag waren auch der 12. November (Ausrufung der Ersten Republik 1918), der 27. April (die gemeinsame "Proklamation über die Selbständigkeit Österreichs" durch die OVP, SPÖ und KPÖ 1945) sowie der 15. Mai (Unterzeichnung des Staatsvertrags 1955) gestanden.