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Wie gefährlich ist die weltweite Finanzspekulation wirklich?

Von Erich W. Streissler

Wirtschaft

Spekulation ist nichts anderes als wirtschaftliche Entscheidung in der Erwartung von Preisänderungen. In jeder unternehmerischen Wettbewerbswirtschaft, vulgo "Marktwirtschaft", verändern sich die Preise rasch und immer wieder, als Konsequenz jeder neu auftretenden Information.


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Längerfristig gleich bleibende Preise sind Kennzeichen entweder von staatlicher Planwirtschaft oder der Dominanz von Oligopolen bzw. sogar von Monopolen, die Preise lange konstant halten, dann aber oft drastisch ändern - mit um so verheerenderen Folgen. Jede Wirtschaft, die nicht von der Hand in den Mund lebt, jede einigermaßen entwickelte Wirtschaft also, muss vorsorgend für die Zukunft agieren; in der Zukunft aber werden andere Preise herrschen. Daher setzt zukunftsbezogenes Wirtschaften stets Spekulation voraus.

Unter dem Titel "Here comes the safe economy?" schrieb unlängst der Jurist Franz Galla und schloss: "Schutz ist teuer ... Der effektivste Schutz vor dem Verkehr besteht in der Nichtteilnahme an demselben". Dem ist nichts hinzuzufügen. Völlige Enthaltsamkeit von wirtschaftlichen Spekulationen kann nur derjenige üben, der sich aus dem Wirtschaftsleben gänzlich zurückzieht und nur von einer sicheren (!) Pension lebt, oder einer wie der katholische Poet Alexander Pope im protestantischen England des 18. Jahrhunderts, der angeblich nur von dem Hort aus Goldstücken in der Truhe seines verstorbenen Vaters lebte, dies freilich ebenfalls unter der (für ihn letztlich erfolgreichen) Spekulation, dass die Truhe ihm weder gestohlen würde noch die Goldstücke an Wert verlieren könnten.

Staaten beteiligen sich aktiv an Finanzspekulationen

Finanzspekulation ist keineswegs neu; nur vergisst jede Generation zu rasch die Spekulationserfahrung der vorangegangenen. Hoch entwickelte Wirtschaften sind durch die Ausbildung von Finanzmärkten und damit durch Finanzspekulation als deren Nebeneffekt gekennzeichnet. Die in der Preisveränderung gemessen größte Finanzspekulation, die es je in Europa gab, ereignete sich im Jahre 1720, und zwar fast gleichzeitig in Frankreich und in England: die Aktienspekulation in den Aktien der "Mississippi"-Gesellschaft in Frankreich und denen der "South Sea Company" in England. In Frankreich stiegen innerhalb von zweieinhalb Jahren die Aktien auf etwa den 55fachen (!) Anfangswert, in England binnen eines halben Jahres auf den siebeneinhalbfachen. (Zum Vergleich: Der durchschnittliche Anstieg der Aktienwerte in der Wall Street im berühmten Boom 1925 bis 1929 ging auf das Vierfache, 1995 bis 2000 auf das Dreifache der Anfangswerte.)

Ganz typisch wurde in beiden Ländern die Spekulation kräftig vom Staat geschürt, der sich auf diesem Wege von hohen Kriegsschulden zu befreien dachte. An allen großen Finanzspekulationen waren stets staatliche Instanzen, oft auch Notenbanken oder deren Chefs (z.B. neuerdings Alan Greenspan) aktiv beteiligt - wenn freilich keineswegs in privatnütziger Absicht. Am regelmäßig folgenden Zusammenbruch sind dann aber "selbstverständlich" immer nur die allzu gierigen privaten Anleger "schuld". Nach 1720 waren die Franzosen für mehr als ein Jahrhundert gegen Spekulation gefeit und horteten bis vor kurzem lieber Goldmünzen; die Engländer waren durch ihren weit schwächeren Finanzzusammenbruch für ein halbes Jahrhundert immun.

Bei schwächeren Zusammenbrüchen dauert die Immunisierung gegen Überoptimismus ein Dezennium oder ein Vierteljahrhundert, bis die nächste Generation - ungläubig gegenüber den Erfahrungen der vorhergegangenen - glaubt, "wir kommen alle, alle in den Himmel", des leichten Reichtums nämlich. Mindestens seit 300 Jahren betragen die sicheren realen Zinserträge, das heißt solche nach Abzug der Inflationsraten, nur drei bis vier Prozent; nichtsdestotrotz glaubten viele aus Österreichs Großbanken in Pension gegangene Bankangestellte, ihr Pensionsfonds werde ihnen sieben Prozent jährlich erwirtschaften - was leider ein trauriges Schlaglicht auf ihre vormalige Finanzberatungsfähigkeit wirft.

Jede Lagerhaltung ist Spekulation und ein kreditfinanzierter Hauskauf Finanzspekulation. Solches glaubt der Durchschnittsbürger zu verstehen. Die Frage, wie gefährlich die weltweite Finanzspekulation ist, lässt sich höchst einfach beantworten: Von den unzähligen Preisänderungen, auf die sich der Mensch in einer entwickelten Wirtschaft stets einstellen muss, werden erstens immer nur diejenigen als "Finanzspekulationen" bezeichnet, die der Betroffene nicht versteht, und zweitens das auch nur dann, wenn derselbe oder seine Freunde und Verwandten dabei - oft kräftig - verloren haben.

Gesetzliche Regulative

bringen auch Nachteile

Gewinnt man bei Finanzmarkttransaktionen, dann geht das bekanntlich immer auf die eigene hohe Fähigkeit zurück - und kaum je auf das Glück, das in Wahrheit immer mitspielt; verliert man hingegen, dann ist nie man selbst dumm oder gar schuld, sondern immer böse anonyme Kräfte. Man ruft nach dem Staat, der einen schützen soll und vergisst, dass gesetzliche Regulative zukünftige Gewinnchancen beschneiden und manchmal, wenn sie wirklich beachtet werden und nicht nur freundlich formulierte Unverbindlichkeiten sind, im internationalen Wettbewerb schwer schädigend wirken können.

Analysten: Guter Rat

ist eben teuer

Besonders primitiv ist die Vorstellung, man müsse sich nur in die Hände professioneller "Analysten" begeben, um mit Sicherheit zu gewinnen. Das heißt, dem häufigen Werbespruch "nur für Sie ist dieser Rat" auf den Leim gehen, ohne sich zu fragen, warum, wenn der Rat so gut ist, der "Analyst" diesen, wenn er ihn schon wirklich nicht anderen Kunden mitteilt, nicht für sich allein behält und selbst lukriert. Der "Analyst" weiß eben, dass der um festes Geld teuer verkaufte Rat für ihn viel einträglicher ist als eigene Spekulation; und das ganze Risiko trägt der Kunde. Untersuchungen haben gezeigt, dass die allerbesten Finanzberater zwar im Durchschnitt höhere Erträge erzielen, aber nur für sich selbst: Die Gewinnbeteiligungen, die sie den Anlegern abknöpfen, machen den gesamten zusätzlichen Erlös zunichte.

Eine andere Studie zeigte, dass Frauen im Schnitt auf Finanzmärkten höhere Erträge erzielen als Männer; und das einfach dadurch, dass sie, wenn sie einmal gekauft haben, bei ihrer Wahl bleiben, Männer hingegen viel eher von einem Anlagewert zum anderen hüpfen und im Schnitt nur die Händler an den Kauf- und Verkaufsgebühren verdienen lassen.

Die großartige Nobel-Vorlesung von Robert Mundell (2000) zeigte, dass das Finanzmarktrisiko vor allem im 20. Jahrhundert besonders hoch war, weil 1914 die die Finanzmärkte stabilisierende, einheitliche Goldwährung der entwickelten Länder zusammenbrach. Mundell zufolge kannte das 20. Jahrhundert keineswegs eine realwirtschaftliche Krise des Kapitalismus, wie Marxisten meinten, sondern vielmehr eine einzige Serie der Geld- und Finanzmarktfehler der Politik. Selbst der Aufstieg Hitlers sei nur als Folge us-amerikanischer geldpolitischer Fehler möglich gewesen, denn diese Fehler hätten die deutschen protestantischen Bauern in den Ruin getrieben, und diese seien die wichtigste Wählergruppe Hitlers gewesen.

Risikoreiche Spekulation

ist etwas für die Reichen

Wegen des hohen Risikos sollten sich Mittelständler nur mäßig auf den riskantesten Finanzmärkten engagieren und eher Immobilieneigentum und Staatsschuldverschreibungen erwerben, die auch schon einigermaßen spekulativ sind. Vorausgesetzt, sie verstehen Finanzmärkte hinlänglich gut, sollten Reiche hingegen Aktienspekulation betreiben, weil sie ein viel höheres Risiko tragen können. Oder Kunstspekulation, die ja "auch nicht ohne" ist und von der nicht selten langfristig auch die Allgemeinheit im Wege öffentlich zugänglicher Kunstsammlungen profitieren kann.

Erich W. Streissler ist Professor der Volkswirtschaftslehre, Ökonometrie und Wirtschaftsgeschichte an der Universität Wien