Spenden brachten den Nikobaren mehr Schaden als Nutzen. | Für traditionelle Tauschgesellschaften ist Idee des Geldes unverständlich.
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Wien. Die Katastrophe brach unvermittelt über das Inselparadies herein: Erst der Tsunami von Dezember 2004. Dann die Spendenwelle. Beides schnitt tief in das Leben der Bewohner der Nikobaren ein, einer Inselgruppe, die weitgehend isoliert 1300 Kilometer südöstlich von Indien liegt.
"Die Geldspenden waren in keinster Weise hilfreich", sagt Simron Jit Singh. Der Forscher an der Universität Klagenfurt beschäftigt sich seit 12 Jahren mit dem Sozialgefüge der Insel. "Die Bewohner können mit Geld nichts anfangen", sagt Singh. Sie praktizieren seit Jahrhunderten Tauschhandel. "Dabei wird ein Gegenstand danach bewertet, wie viel Zeit und Land zur Produktion erforderlich war", erklärt Singh im Gespräch mit der "Wiener Zeitung". Das seien jene Ressourcen, die auf den Nikobaren von jeher knapp waren und von den Einwohnern gut abgeschätzt werden können. "Jeder weiß genau, welcher Aufwand in einem Kanu steckt und in der Aufzucht eines Schweines - und kann beurteilen, ob ein Geschäft fair ist oder nicht."
Fremde Marktgesetze
Das begann sich zu ändern, als europäische Schiffe landeten und fremdartige Güter zum Tausch standen, deren Wert sich den Nikobaresen nicht erschloss: Uhren, Medikamente, Rum, Werkzeuge, Streichhölzer.
"Der Wert, der sich am Land- und Zeitaufwand bemisst, wird intransparent, sobald unbekannte Variablen ins Spiel kommen", sagt Singh. Das könne technologische Produktion sein oder eine Geldwährung. Statt über den nötigen Ressourcenaufwand wird der Wert einer Sache dann dadurch bestimmt, wie begehrt und verfügbar sie ist. Angebot und Nachfrage setzen den Preis, die Grundlage des kapitalistischen Marktes.
Die Nikobaresen, die von Fischerei, Jagd, Pflanzenanbau und Handel mit Kokosnüssen leben, konnten und können mit diesem abstrakten Konzept wenig anfangen. Sie wurden deshalb schon vor Hunderten Jahren von Händlern übervorteilt. Viele Einwohner verschuldeten sich heillos, indem sie große Teile ihrer künftigen Produktion an Kokosnüssen und Kokosöl verpfändeten.
Die Absichten mögen die besten gewesen sein, der Schaden war enorm: Die Spendenwelle nach der Flutkatastrophe Ende 2004 brachte das soziale Gefüge vollends durcheinander.
"Plötzlich gab es wieder ganz neue Wertmaßstäbe. Je nachdem, wie viele Menschen und wie viel Land eine Familie verloren hatte, wurden die Spendengelder zugeteilt." Das brachte Neid und Missgunst - und die Art der Zuteilung brach jenes Gefüge der Großfamilien auf, in denen die Nikobaresen traditionell gelebt hatten, sagt Singh.
Sinnlose Konsumgüter
Die Nikobaresen konnten zudem mit dem vielen Geld wenig Sinnvolles anfangen; Investieren und Sparen sind ihrem Tauschsystem fremd. So flossen große Beträge in kurzlebige Konsumgüter wie Motorräder, TV-Geräte oder Rum. Weitere Unsummen verschwanden, weil die Einwohner die Verwaltung ihrer Bankkonten kurzerhand den Händlern überantwortet hatten.
Die Folge ist Abhängigkeit: Um ihren neuen Lebensstil ohne Spenden beibehalten zu können, werden die Nikobaresen ihre Fischbestände oder Kokosnussplantagen ausbeuten müssen - für wenig Geld, weil sie nie wettbewerbsfähig sein werden. "Ich glaube nicht, dass die Einwohner zu ihrem alten Leben zurückkehren können", befürchtet Singh. Wie wäre dann richtig geholfen worden? "Das Wichtigste wäre zu fragen, was die Menschen wirklich brauchen. Spenden können ein gravierender kultureller Eingriff sein. Und es muss klar sein, wer wem hilft." Vorgeblich humanitäre Hilfe verfolge nämlich oft den Zweck, die eigenen Institutionen einer Region überzustülpen, um daraus langfristigen Profit zu schlagen, sagt Singh: "Nicht von ungefähr fließt meist viel mehr Geld in Infrastruktur als in Lebensmittel, Wasser und Medikamente."