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Wie gut kennen wir unsere Grundrechte?

Von Beate Meinl-Reisinger

Gastkommentare
Beate Meinl-Reisinger ist Klubobfrau der Neos.
© Philipp Simonis

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Krisenzeiten, wie aktuell die Corona-Krise, zeigen, wie schnell Gesetze und Verordnungen erlassen werden können, die massiv in die Grundrechte eingreifen. Bestes Beispiel dafür ist das Covid-Maßnahmengesetz, das immer noch schwere Eingriffe in den Rechtsstaat und die Bürgerrechte mit sich bringt. So darf die Regierung ohne ausreichende Kontrolle durch das Parlament Betretungs- und Ausgangsverbote erlassen. Diese Eingriffe sind gravierend und nicht verhältnismäßig und damit verfassungsrechtlich bedenklich.

Für eine Regierung muss immer die Achtung der Verfassung gelten. Es ist daher inakzeptabel, dass das Bemühen um Verfassungskonformität von Gesetzen und Verordnungen in den vergangenen Jahren keine große Konjunktur hatte. Wohlbegründete - und in der Folge bestätigte - Zweifel an der Verfassungskonformität als "juristische Spitzfindigkeiten" abzukanzeln, offenbart keine staatsmännische Haltung, sondern nur parteipolitischen Opportunismus. Wie wichtig die Kontrolle durch den Verfassungsgerichtshof ist, haben die vergangenen Monate gezeigt.

Die Leistungen der Väter unserer Bundesverfassung, allen voran die des großen Hans Kelsen, sind auch nach 100 Jahren bemerkenswert. Ihre Grundprinzipien, vor allem das demokratische, das rechtsstaatliche, das liberale und das der Gewaltenteilung, sind tragende Säulen unserer Demokratie - garantiert durch die von Kelsen entworfene, vorbildhafte Normenkontrolle durch einen unabhängigen Verfassungsgerichtshof. Gerade wegen Kelsens großer Leistung bräuchte es einen neuen Anlauf, die Verfassung zumindest teilweise zu reformieren.

Die "Schönheit und Eleganz der Verfassung", wie Bundespräsident Alexander Van der Bellen ausführte, ist jedenfalls zu würdigen.

Aber nicht jede politische Krise, die nur durch einen umsichtigen Bundespräsidenten verhindert wurde, wäre auch gleich eine Verfassungskrise geworden. Umso wichtiger ist es, den Geist der Verfassung und demokratische Institutionen zu achten. Die beste Verfassung und die besten Institutionen versagen dort, wo man sich nur noch formal zu ihren Grundsätzen bekennt. Echte Staatsmänner und Staatsfrauen unterscheiden sich von Parteigängern in hohen Ämtern dadurch, dass im Zweifel Staatsräson über Parteiräson zu stehen hat.

Dass der damalige "Österreich-Konvent" mit umfassenden Vorschlägen für eine Staats- und Verfassungsreform gescheitert ist, ist zu bedauern. Schließlich gibt es einiges an Reformbedarf. Neben einem Paradigmenwechsel weg vom Amtsgeheimnis hin zu umfassender Informationsfreiheit bin ich davon überzeugt, dass eine Zusammenfassung des zersplitterten Verfassungsrechtsbestands in eine einheitliche Verfassungsurkunde samt Grundrechtekatalog nicht nur aus stilistischen Gründen gut wäre.

Ein in der Verfassung verankerter Grundrechtekatalog würde für mehr Wissen und Sensibilität in der Bevölkerung bei Grundrechtseingriffen sorgen. Gerade in einer pluralistischen Gesellschaft mit gesellschaftlichen Spannungen und Wertekonflikten wäre dieses Hochhalten einer Prinzipien- und Wertebasis ein wichtiger Entwicklungsschritt. Wir müssen die Frage stellen: Kennt jede und jeder seine Grundrechte? Wissen alle über ihre Bedeutung Bescheid? Eine liberale Demokratie muss immer wieder aufs Neue verteidigt werden. Mehr Wissen und Aufklärung für unsere Verfassung täten dabei gut.