Das Erbe von Knigge und Elmayer ist lebendiger als je zuvor. Benimmratgeber werden zu Verkaufsschlagern - ein Trend, der auch seltsame Blüten treibt.
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Erotik-Knigge, Karriere-Knigge, Klima-Knigge - als Adolph Freiherr von Knigges "Über den Umgang mit Menschen" 1788 erschien, hat der Aufklärer wohl kaum vermuten können, welche Blüten sein Werk im 21. Jahrhundert treibt. Die Regale der Buchhandlungen sind voll von Benimmratgebern und Stilfibeln - mitten im grenzenlosen Zeitalter der Technologie scheint man sich nach Orientierung und Regeln zu sehnen. Elisabeth Bonneau hat bereits viele solcher Ratgeber geschrieben - "300 Fragen zum guten Benehmen" oder den "Großen GU-Knigge" - und gilt als Expertin auf dem Gebiet. Sie kann den Beginn der Erscheinungsflut von Benimmbüchern auf den Tag genau festmachen: "Am 6. Mai 1996 ging das los, am 200. Todestag Knigges. In den Medien stellte man sich die Frage: Wie lebendig ist Knigge noch?"
Das Thema wurde in den Feuilletons der großen Zeitungen behandelt - und wanderte schließlich in den Wirtschaftsteil. Wie können wir Umgangsformen ökonomisch für uns nützen - das war nun die Frage, die Manager und Wirtschaftsstudenten beschäftigte. "Die Idee war: Wenn ich mich in anderen Milieus zurechtfinde und bestimmte Dinge kenne, erhöht das meinen Marktwert." Wenn man etwa weiß, wie man sich bei der Cocktailparty des Chefs kleiden muss oder ausländische Geschäftspartner korrekt anspricht, wenn man einen Windsor-Knoten binden und mit Stäbchen essen kann. "Wenn ich zum Beispiel in China Geschäfte machen will, muss ich wissen, wie die Chinesen ticken", sagt Elisabeth Bonneau. Was würde wohl Knigge von diesen sehr nutzenorientierten Anwendungen halten- er bemühte sich vernunftgeleitet um eine Durchsetzung der Moral in der Gesellschaft und weniger darum, wie man das Besteck zu halten hat. Er plädierte für Taktgefühl und Höflichkeit und führt seine Leser vom "Umgang mit sich selber" bis zur "Art, mit Tieren umzugehen". Knigges Werk, das zum Namensgeber für so viele Ratgeber wurde, ist auch heute noch eine hochinteressante Lektüre, die vor allem ein Zeugnis über ihre Entstehungszeit abgibt. Es ist ein revolutionäres Werk, weil es sich in der Zeit der Ständegesellschaft ausnahmslos an alle Menschen richtete. "Knigge war dafür, die Welt so zu öffnen", meint Elisabeth Bonneau: "Natürlich: Wenn er wüsste, dass es einen Sauna-Knigge gibt, würde er sich wahrscheinlich im Grab umdrehen." Andererseits: Wer in Finnland zu Gast ist, sollte wissen, dass man sich in der Sauna auf ein Handtuch setzt.
Um einen sicheren, respektvollen Umgang geht es auch in den Benimmratgebern heute: "Knigge machte den Menschen Tore auf. Er sagte: Geht wertschätzend miteinander um." Wenn ich mich heute für eine Einladung bedanke, einem Gast in den Mantel helfe oder mich in mein schönstes Kleid werfe, mache ich das aus Wertschätzung zu meinem Gegenüber. In den letzten 15 Jahren hat sich der Umgang mit Etikette gewandelt, aber das Interesse ist ungebrochen: "Die Menschen interessieren die Regeln, sie sind in unsere Kultur eingebettet", sagt Elisabeth Bonneau. Allerdings sind es weniger die praxisorientierten Fragen, wie man etwa eine Gabel hält oder eine Smokingfliege bindet. "Das reine How-to reicht den Leuten nicht mehr. Ein Erwachsener tut sich leichter, wenn er weiß, woher manche Konventionen kommen." Diese Konventionen geben auch Sicherheit - wenn man weiß, wie man sich auf verschiedenen Spielfeldern zu verhalten hat. Die Codes dafür werden immer undurchschaubarer - Gesellschaftsklassen verschwimmen und werden immer vielfältiger. "Man sollte ein Bewusstsein haben, wie das eigene Tun wirkt", sagt Bonneau: Kommt es gut an, wenn ich Herrn Dr. Maier als "Herrn Doktor" anspreche? Wie findet er es, wenn ich die Rechnung übernehme?
Viele Etiketteregeln haben die "Dame" aus schützenswertes Objekt im Zentrum - ihr wird die Türe aufgehalten, der Sessel zurechtgerückt, in den Mantel geholfen. Diese Regeln scheinen in einer gleichberechtigten Gesellschaft doch sehr überholt? "Die Dame wurde traditionellerweise auf einen Sockel gestellt, dadurch aber auch passiv gemacht. Wenn ich als Frau einmal den Mann auf den Sockel stelle, merkt er, wie dünn die Luft dort oben ist", erklärt Elisabeth Bonneau. Sie plädiert dafür, in der Etikette die Dame durch "die zu schützende Person" zu ersetzen. Auch eine Gastgeberin wird ihrem männlichen Gast den Mantel abnehmen und ihm die Türe öffnen - sie ist diejenige, die in diesem Umfeld zuhause ist. "Dame" und "Herr" können also heute auch als "Gast" und "Gastgeber" verstanden werden.
"Welche Umgangsformen brauchen wir noch?" fragt auch Knigges Nachfahre Moritz Freiherr Knigge mit Michael Schellberg im Buch "Eine Frage, Herr Knigge" (Bastei Lübbe Verlag). Er plädiert für eine lebensnahe Interpretation der Benimmregeln - schließlich verbringen wir unsere meiste Zeit nicht in Fünfsterne-Hotels und am Opernball, sondern im Büro, beim Italiener nebenan oder bei Freunden. Und auch an der Supermarktkasse ist gutes Benehmen gefragt - gerade dort. Man kann sich und anderen das Leben erleichtern, wenn man die Kassiererin freundlich grüßt, Kunden mit wenigen Einkäufen vorgehen lässt, sich beim Kleingeldkramen nicht ewig Zeit lässt. Das Autoren-Duo, das gemeinsam eine Unternehmensberatung führt, beschreibt, wie man gelungene Feste organisiert, wie man respektvoll mit Familie und Freunden umgeht oder sich auf der Firmenfeier verhält. Sie widmen sich auch den kleinen Benimmfragen, die Lernwillige in Verwirrung stürzen: Sagt man nun "Gesundheit", wenn jemand niest - oder nicht? Knigges Nachfahre hält es für eine nette und aufmerksame Geste. Ähnlich ist es mit der neuen Regel, dass man sich keinen "Guten Appetit" mehr wünschen dürfe - "so als käme jeden Moment die Benimmpolizei um die Ecke, um die Delinquenten wegen schwerwiegender Verstöße zu inhaftieren!", meinen Knigge und Schellberg und sagen: "Wir sollten unseren eigenen Verstand und unser eigenes Herz einschalten, bevor wir uns in unser Benimmvokabelheft diktieren lassen, was wir zu tun oder zu lassen haben."
Trotzdem gibt es ein großes Bedürfnis, "es richtig zu machen" - viele Leser der neuen Benimmratgeber wollen klare Antworten, wie das funktioniert. Nandine Meyden hat dafür ein "Lexikon der Benimmirrtümer" geschrieben. So sagt man nicht "Ich entschuldige mich", nennt seinen Ehemann keinesfalls "Gatte" und kann auch männlichen Gastgebern Blumen mitbringen. Die Stilfibeln des 21. Jahrhunderts beschäftigen sich aber nicht nur mit den ewigen Fragen um Essen und Einladungen - auch der stilvolle Umgang mit Handy und Internet will gelernt sein: Opernball-Organisatorin Desirée Treichl-Stürgkh schreibt in ihrem Ratgeber "Lebensstil" (Christian Brandstätter Verlag) über Handy-Don´ts: Nebengeräusche wie Staubsauger sollten beim Telefonieren aus Respekt ausgeschaltet bleiben, wegen eines "Anklopfers" darf kein Gespräch unterbrochen werden, im Theater oder Konzert muss das Handy natürlich abgeschaltet werden. In sozialen Netzwerken rät sie, mit persönlichen Informationen und Daten vorsichtig umzugehen.
Wie man in Deutschland missbilligend meint "Der hat seinen Knigge nicht gelesen", heißt es in Österreich: "Der sollte den Elmayer studieren". Thomas Schäfer-Elmayer ist in der dritten Generation Leiter der gleichnamigen Tanzschule und gilt in Österreich als "Benimmpapst", seine Ratgeber richten sich an Leser vom Kind bis zum Manager. "Der kleine Elmayer" sorgt bereits im Kindergartenalter für gute Umgangsformen. Der "Business-Elmayer" zeigt, dass gutes Benehmen zum Erfolgsfaktor werden kann. Willy Elmayer schrieb 1957: "Menschen, die Anstand wahren, befolgen die vielen ungeschriebenen Gesetzen, die den Umgang mit ihnen angenehm machen. Sie besinnen sich stets auf die Schranken und Grenzen, die sie sich selbst gesetzt haben, und ihre Selbstgenügsamkeit ist die Voraussetzung für ihre Selbstsicherheit."
"Erfolgreich mit Stil", "Stil zeigen!", "Elternknigge", "Benehmen macht Schule", "Ist pupsen peinlich?", "Schlampen-Knigge", "Plötzlich Prinzessin - das ultimative Benimmbuch", "Der koschere Knigge", "Essen wie ein König", … Wer im Internet auf die Suche nach Benimmliteratur geht, wird von der Flut an Erscheinungen zum Thema fast erschlagen. Der Titel von Willy Elmayers Ratgeber-Klassiker der späten Fünfzigerjahre scheint auch ein halbes Jahrhundert später noch zu gelten: "Gutes Benehmen wieder gefragt".