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Wie Integrationsdebatten die Probleme verdecken können

Von Stefan Beig

Politik

Das neue Buch "Die Integrationslüge" entkräftet Klischees durch Fakten.


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Wien. Ob eine slowakische Krankenschwester im Seniorenwohnhaus St. Anna bei Linz, die rund 500 "Augustin"-Verkäufer in Wien oder eine Geburtenstation, wo die meisten angehenden Mütter Migrationshintergrund haben: Verschiedene Schauplätze in Deutschland, der Schweiz und Österreich beleuchtet das neue Buch "Die Integrationslüge".

Doch die beiden Autoren Eva Maria Bachinger und Martin Schenk wollen nicht nur Lebensrealitäten aufzeigen. Sie haben auch eine klare These: Integration ist eine Frage der sozialen Rangordnung. Das wichtigste Unterscheidungsmerkmal von Menschen sei noch immer das Geld. Die wahren Probleme werden nicht angegangen, wenn dauernd über Kultur-Spezifika und Religionszugehörigkeit geredet wird statt über Bildung, Arbeitsmarkt oder Aufstiegschancen. Die spannenden Reportagen beweisen dabei, dass das Autorenpaar die Augen nicht vor der Realität verschließt.

Die Rütli-Schule in Berlin-Neuköln etwa ist heute "ein Vorzeigemodell für Integrationsarbeit an Schulen". 2006 kam sie in die Schlagzeilen, als die Lehrer in einem öffentlichen Appell erklärten: "Wir sind ratlos." Die Schule sei für die Schüler "Schauplatz und Machtkampf um Anerkennung. Es gibt für sie keine positiven Vorbilder. Sie sind unter sich und lernen Jugendliche, die anders leben, gar nicht kennen." Auf einmal gab es mehr Geld und eine neue Schulleitung. Eine atmosphärische Veränderung fand statt, dank einer neuen "Wertschätzungskultur" für die Muttersprachen der großteils fremdsprachigen Schüler.

Wie die Pirls-Studie (Progress in International Reading Literacy Study) zeigt, ist der Unterschied in den Leseleistungen zwischen Einheimischen und Migranten in Deutschland und Österreich besonders hoch. Der Grund: Hier ist der Schulerfolg besonders stark abhängig vom sozialen Status der Eltern.

Die Relevanz der sozialen Herkunft verdeutlicht auch der Alltag beim Verein "Durchbruch", einem Berliner Ausbildungsprojekt für Jugendliche. Herzergreifend sind die in dem Band vereinigten abenteuerlichen Lebensgeschichten der Jugendlichen, die großteils aus Migrantenfamilien stammen. Nicht alle vom Verein betreuten Jugendlichen haben freilich Migrationshintergrund. "Bei den paar Deutschen, die wir derzeit betreuen, ist die Familiensituation oft noch krasser", berichtet Sepp Klein, der Leiter des Vereins, der als Sozialpädagoge schon seit Jahrzehnten mit "wilden Jungs" arbeitet. "Wir haben also eher ein Schichtenproblem und kein Ausländerproblem. Und in der unteren Schicht kommen eben vermehrt Migranten vor."

Mit oder ohne Minarett?

Szenenwechsel: Langenthal in der Schweiz wurde medial durch das Minarett-Votum bekannt, das die Erweiterung einer Moschee verhinderte. Dabei wurde just in der 15.000 Einwohner zählenden Stadt 2006 einer der größten Sikh-Tempel Europas eingeweiht. Mitten in Langenthal betreibt auch der Sohn eines türkischen Gastarbeiters ein erfolgreiches Döner-Lokal. Multikulturalität ist in der Gemeinde schon längst Selbstverständlichkeit.

Pfarrer Simon Kuert rät den Muslimen zu einem Ausbau der Moschee. "Wissen Sie, die Christen haben uns von Anfang an unterstützt. Der Pfarrer versteht unsere Gefühle", erzählt Mutalip Karaademi, der Präsident der islamischen Gemeinschaft in Langenthal. Auch Stadtpräsident Thomas Rufener von der nationalkonservativen Schweizer Volkspartei ist überraschend liberal. Auf die SVP-Plakate angesprochen, die Minarette als Raketen darstellten, antwortet er verlegen: "Ich beobachte, dass die Medien die Extreme suchen. Nur wer da mitmacht, bekommt große Aufmerksamkeit, hat Schlagzeilen und schafft es in die Fernsehnachrichten. Mit Knochenarbeit und ausgewogenen Positionen können Politiker kaum noch punkten."

Aus der Nähe gesehen wirkt das Leben in Langenthal fast harmonisch. Es ist, als hätte eine hysterische mediale Debatte das Leben hier kurz durcheinander gewirbelt. Als "Kulturalismus"-Falle bezeichnen die Autoren den Hauptfehler der Integrationsdebatte. "Sie definiert Zugehörigkeit völkisch." Dadurch würden keine Probleme gelöst, manche dafür erst erzeugt.