Die Wurzeln des Nationalismus liegen anscheinend im Frühmittelalter.
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Wien. Wer sich einem Volk zugehörig fühlt, erlebt Gemeinschaft - und kann in blutige Konflikte wie jene in Exjugoslawien schlittern. Wie es kommt, dass Ethnien so wichtig sind, beschäftigt mittlerweile auch die Forschung, und ebenso, wie Ethnien - ob Serben, Polen, Franzosen, Deutsche oder Engländer - entstanden sind. "So können wir die historischen Wurzeln gegenwärtiger Konflikte verstehen", betont Walter Pohl, Professor für mittelalterliche Geschichte an der Uni Wien, gegenüber der "Wiener Zeitung". Gemeinsam mit dem Wiener Sozialanthropologen Andre Gingrich organisiert Pohl eine derzeit stattfindende interdisziplinäre Tagung an der Akademie der Wissenschaften, die sich mit der Rolle der Religionen im Entstehen von Gemeinschaften befasst. Dass Ethnien so zentral für die politische Entwicklung sind, ist nämlich ein Spezifikum Europas und hängt laut Pohl mit dem Christentum zusammen.
Der Ursprung der europäischen Völker liegt im Frühmittelalter. Europas Entwicklung war "außergewöhnlich", betont Pohl. Europas politische Landschaft sei nämlich "seit mehr als einem Jahrtausend geprägt von relativ stabilen und meist ethnisch definierten Staaten", wie dem Frankenreich oder den Königreichen der Angelsachsen, Ungarn und Schweden. Zwar waren diese Reiche nie ethnisch homogen, aber "sie sind alle nach Völkern benannt und leiten von diesen ihre Legitimität ab."
Lange Zeit glaubte man, dass es Völker schon immer gab und die gemeinsame Abstammung ihre ethnische Identität begründet. Doch gerade die Völkerwanderungszeit zeige, wie vielfältig die werdenden Völker zusammengesetzt sind, meint Pohl. Die Vorstellung, Völker würden wie überzeitliche platonische Wesenheiten die Geschichte überdauern, wurde von Historikern des 19. Jahrhunderts vertreten. Heute gilt sie als überholt. "Ethnizität ist keine ahistorische Kategorie", betont auch der Historiker Patrick Geary von Princeton, der an der Tagung teilnimmt.
Die Vorstellung von einem Bund, den ein Volk mit Gott eingeht, sei am Anfang der Entstehung ethnischer Staaten gestanden, erklärt Pohl. "Gott herrscht über die Völker, denn dem Herren kommt die Königsherrschaft zu", heißt es in einem Psalmenkommentar des römischen Senators Cassiodor um die Mitte des sechsten Jahrhunderts. "Nicht die Völker besitzen die Reiche, sondern der Herr, der durch seine Macht Könige austauscht oder bewahrt." Politische Herrschaft über ethnische Staaten hatten nur christliche Könige inne.
Mitten in den Umbrüchen der Spätantike bot die Bibel den damaligen Intellektuellen Orientierung. Das Christentum unterstütze die Vorstellung einer Vielzahl von Völkern. Walter Pohl verweist etwa auf die Aufforderung am Ende des Matthäus-Evangeliums, wo es heißt: "Lehret alle Völker", nicht "lehret alle Menschen". In den Schriften damaliger Bibel-Exegeten ging es um Themen, wie die kollektive Beziehung eines Volkes zu Gott. Die politische Relevanz solcher Bibel-Exegese wurde bisher unterschätzt.
Um die Identität der Franken herrschte etwa eine intensive Auseinandersetzung. Für Bischof Gregor von Tours war am Ende des sechsten Jahrhunderts die christliche Identität für die Zukunft der Franken entscheidend. In einer Chronik aus dem siebten Jahrhundert wird die Welt als eine Welt von Völkern vorgestellt, in denen die Franken eine Vorrangstellung haben.
Der Zerfall des Kalifats
Unterstützt würde der Gedanke vieler Völker bereits im Alten Testament durch die Geschichte des "auserwählten Volks", das sich spätestens ab der babylonischen Gefangenschaft darum bemüht habe, seine ethnische Identität nicht zu verlieren, so Pohl. Ebenso wurde versucht, auch die anderen Völker über Abstammung einzuordnen. Eine Erklärung für die Vielfalt der Sprachen und Völker bot die Geschichte vom Turmbau von Babel, in der Gott gemeinsames Handeln der Völker durch eine Sprachverwirrung verhindert.
"In der islamischen Geschichte war das die längste Zeit völlig anders", sagt Andre Gingrich zur "Wiener Zeitung". "Das Kalifat war ein großes Reich mit verschiedenen Sprachgruppen und Religionen. Der Zerfall dieses frühislamischen Großreiches geschah schrittweise, allerdings nicht entlang ethnischer Grenzen." Schließlich gab es in mehreren Teilen des ehemaligen islamischen Großreichs lokale Führungsschichten, die aus den Reihen der Stämme kamen. "Manche haben ihre Macht genealogisch legitimiert - entweder über Verwandtschaft mit den Einheimischen, oder über Verwandtschaft mit dem Propheten Mohammed".
Den Osmanen sei ab dem späten 15. Jahrhundert ihre Legitimation über den Islam gelungen, aber nur 100 Jahre lang. "Sie wurden als Fremdherrschaft gesehen, die sich nicht von der späteren Kolonialherrschaft entscheidend unterschied", meint Gingrich.
Im 19. Jahrhundert hat der europäische Nationalismus christliche Erlösungsvorstellungen auf die Nation übertragen. Die katholische Kirche hat ihn umgehend verurteilt. Doch der Glaube, Volkszugehörigkeit bringe das Heil, sei nur nur durch die Vorstellung eines Bundes zwischen Volk und Gott am beginnenden Mittelalter möglich gewesen, betont Pohl.
Im arabischen Raum ist der Nationalismus in seiner europäischen Ausprägung heute gescheitert. "Dabei darf man nicht vergessen, dass er säkularer Natur war", betont Gingrich. Die Religion - der Islam - sei "an die Stelle des Nationalismus getreten.