Der Franziskaner Alsabagh harrt im heftig umkämpften Aleppo aus. Er berichtet vom Leid der Zivilbevölkerung.
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"Wiener Zeitung": Aleppo ist derzeit stark umkämpft, Regierungstruppen haben eine Offensive gestartet. Die Stadt ist zweigeteilt, wo leben die Christen?
Ibrahim Alsabagh: Im Westteil der Stadt, unter dem Schutz der regulären syrischen Armee.
Wie haben Sie die letzten drei Wochen in Aleppo erlebt?
Es war schrecklich. Es hat permanenten Raketen- und Granaten-Beschuss gegeben. Wir wissen nicht ganz genau, wer da schießt. Aber die, die es tun, richten ihre Gewalt gegen Unschuldige, nicht gegen die Armeesoldaten.
Das heißt, Zivilisten werden absichtlich beschossen?
Ja. Häuser und Straßen, Kirchen und Moscheen. Spitäler, Altersheime und Schulen.
Haben Sie den Eindruck, dass Christen für die Dschihadisten ein spezielles Ziel darstellen?
Wir haben sehr oft das Gefühl, dass wir als Zivilbevölkerung das Ziel sind. Muslime und Christen. Aber wenn sie Kirchen während der Heiligen Messe am Sonntag beschießen, mitten in die Menge während der Heiligen Kommunion, dann wissen wir, dass damit der Tod von möglichst vielen Menschen erreicht werden soll. Dann glauben wir, dass es darum geht, speziell Christen zu töten.
Als Russland zuletzt auf Seiten der syrischen Regierung in die Kämpfe eingegriffen hat, ist das von Bischof Georges Abou Khazen in Aleppo begrüßt worden. Glauben Sie, dass das Engagement Moskaus immer noch eine gute Sache ist oder hat der Beistand die Lage nicht vielmehr verschlimmert?
Die Russen verfolgen in Syrien ihre eigenen Interessen. Es gab aber immer schon eine enge kirchliche Verbindung zwischen den Patriarchat von Russland und dem von Antiochia. Es gibt eine Freundschaft zwischen den Christen beider Länder und den Bevölkerungen. Wir haben den Eindruck, dass die Russen die unschuldige Zivilbevölkerung verteidigen. Die USA haben immer davon gesprochen, dass sie den IS vertreiben werden. Aber ihr Eingreifen hat sich auf Worte beschränkt. Wenn wir echte Taten sehen, dann sehen wir Russen.
Sie sind vom Westen enttäuscht und glauben nicht mehr, dass von dieser Seite Hilfe kommt?
Ja.
Aber es gibt eine Art Friedensprozess, es gibt Treffen in Wien. Glauben Sie, dass es eine Lösung am Konferenztisch geben kann?
Bei dieser Krise handelt es sich nicht um einen Bürgerkrieg zwischen verschiedenen Teilen der syrischen Bevölkerung. Es ist mittlerweile ein internationaler Krieg. Man kann von Syrien keine Lösung erwarten. Wir erwarten sie von den vielen Staaten, die derzeit in unserem Land Krieg führen.
Österreichs Außenminister Sebastian Kurz will syrische Flüchtlinge möglichst fernhalten, er spricht von dem australischen Modell, will Flüchtlinge auf Inseln im Mittelmeer internieren. Was würden Sie als Priester auf seinen Vorschlag antworten?
Wenn jemand vor Krieg, Tod oder Gefängnis flüchtet, können wir die Türe nicht verschließen. Wir sollten Personen, die Angst haben, respektieren. Aber nicht jeder, der kommt, ist jemand, der dem Tod entrinnen will. Und er muss die Regeln des Gastlandes anerkennen. Ich weiß, dass viele IS-Mitglieder gemeinsam mit richtigen Flüchtlingen unterwegs sind. Sie sind auch dem Tod entronnen und kommen als "Flüchtlinge" nach Europa.
Wie geht es den Menschen in Aleppo? Viele, vor allem jüngere, kennen nichts als Krieg und Gewalt. Ich kann mir vorstellen, dass viele stark traumatisiert sind.
Es ist schrecklich, es ist eine furchtbare humanitäre Krise. Die Leute leben ohne Elektrizität und oft ohne Wasser, die Preise für Nahrungsmittel sind enorm hoch, Arbeit gibt es keine, dafür Granaten auf den Kopf. Wie kann man so leben? Viele sind geflohen . . .
. . .die Armen aber nicht.
Nein, die nicht. Die müssen die Lage erdulden.
Wie ist das Verhältnis zwischen Christen und Muslimen im Westteil von Aleppo?
Es ist wie vor dem Krieg eine wunderbare Gemeinschaft im Geiste der Solidarität. Wir denken an das gemeinsame Wohl und versuchen einander zu helfen.
Sie sitzen alle im gleichen Boot.
Ja, wir leben in Frieden in diesem Teil von Aleppo.
Aber wie schaffen es die Menschen, psychisch zu überleben? Die Seele ist doch Ihr Betätigungsfeld als Priester?
Es gibt immer mehr Menschen, die traumatisiert sind. Vor allem Frauen und Kinder. Viele Kinder leiden unter Schlafstörungen. Es gibt Frauen, Mütter, die nicht einen Moment lang allein gelassen werden können. Sie können nur mit Psychopharmaka Schlaf finden. Wir haben in Aleppo nicht einmal einen einzigen Psychologen. Es wird nur mit Pillen behandelt, mehr nicht.
Hilft das Rote Kreuz, internationale Organisationen?
Nur zu einem kleinen Teil. Die Rede ist immer nur von den Syrern, die außerhalb Syriens sind - in der Türkei, in den Lagern im Libanon und in Jordanien. Über die, die in Syrien sind, wird nicht viel gesprochen. Wir leiden genauso, haben aber nicht die gleiche Hilfe vom Roten Kreuz.
Wie sehen Sie Ihre Aufgabe in Aleppo? Haben Sie schon darüber nachgedacht, ins Ausland zu gehen?
Ich will dort helfen, der Gedanke der Nächstenliebe sorgt dafür, dass ich über mich selbst hinauswachse. Das ist Teil meiner Berufung als Priester und Franziskaner. Ich denke nicht an mich selber, sondern an die Menschen. Ich versuche auch auf einer spirituellen Ebene zu helfen. Aber in erster Linie muss ich das auf humanitärer Ebene tun.
Ibrahim Alsabagh ist syrischer Priester und Mitglied des Franziskaner-Ordens. Er versucht mit fünf Mitbrüdern, die Not der Menschen in Aleppo zu lindern. Alsabagh war auf Einladung von "Kirche in Not" zu Gast in Wien. Er wird bei der Langen Nacht der Kirchen am 10. Juni einen Vortrag zur Lage der
Christen in Syrien halten: 20.30 Uhr in der Schottenkirche auf der Freyung.