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Wie krank ist das Schulsystem?

Von Stephan Berchtold

Politik

Die Schule muss auch Leistungen einfordern. Wie sie darauf reagiert, wenn diese Leistungen nicht erbracht werden, ist die Frage. Werden, auch aus Bequemlichkeit, soweit wie möglich alle Augen zugedrückt, fördert das fragwürdige "Vorbilder".


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 19 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Das Schuljahr neigt sich dem Ende zu. Nicht wenige Schüler wissen, dass ihnen nicht nur in einem Fach, sondern gleich in mehreren Gegenständen eine Beurteilung mit "Nicht genügend" bevorsteht. Manche haben sogar Erfahrung damit. Und sie leben mit diesem an sich eher beunruhigenden Zustand ziemlich gelassen. Die beruhigende Wirkung geht aber nicht von diversen legalen oder illegalen Substanzen aus. Vielmehr hat sich im Schulsystem ein Mechanismus entwickelt, der dem Nicht-Lernen sehr entgegen kommt.

Nehmen wir an, ein Schüler habe in drei Fächern beste Chancen auf eine Beurteilung mit "Nicht genügend". Und unter seinen Lehrern bestehe auch weitgehend Übereinstimmung, dass diese Noten dem tatsächlichen Leistungsniveau entsprechen. Auch die obligaten letzten Chancen in Form von angesagten Prüfungen und Aufforderungen zur Mitarbeit haben dem Schüler nicht geholfen, durch entsprechende Leistungen von den negativen Beurteilungen loszukommen.

Wirksamer Mechanismus

Dieser Tage haben die Lehrer die Noten in den Katalogen einzutragen. Und siehe da, von den drei drohenden "Nicht genügend" findet sich am Tag der Notenkonferenz nur eines im Katalog. Trotz der mangelnden Leistungen des Schülers.

Was ist hier passiert? Gehen wir davon aus, dass seitens der möglicherweise einflussreichen Eltern noch gar nicht interveniert wurde. Auch wenn die Möglichkeit dazu auf informeller Ebene natürlich immer besteht, allerdings je nach Lehrer mit unterschiedlicher Wirksamkeit.

In unserem Fall wurden die Noten des Schülers von den Lehrern scheinbar ohne direkte Fremdeinwirkung geändert. Allerdings kam es zu einer indirekten Einwirkung, und zwar durch das System selbst. Dieser Mechanismus entfaltet wie folgt seine Wirksamkeit: Eltern haben, wohl auch im Sinne des Schutzes vor ungerechtfertigter Beurteilung, die Möglichkeit, beim Stadtschulrat Einspruch zu erheben, sobald sie das Zeugnis ihres Kindes in Händen halten.

Verpatzte Ferien

Kommt es zu diesem Schritt, dann bedeutet das für die betreffenden Lehrer, dass sie, anstatt wie die Kollegen am Ende des Schuljahres die Ferien anzutreten, erst einmal akribisch nachweisen und dokumentieren müssen, welche Leistungsschwächen sie beim betreffenden Schüler wann und wie festgestellt haben. Anschließend kommt es einige Tage nach Schulschluss zu einem Termin beim Stadtschulrat, möglicherweise auch zu einer Konfrontation mit den Eltern. Wie weit eine solche Konfrontation anhand sachlicher Argumente abläuft, ist oft schwer beeinflussbar.

Der Effekt für den Lehrer ist der, dass eine möglicherweise gerechtfertigte Beurteilung eines Schülers mit der Note "Nicht genügend" einen oft ungerechtfertigten Mehraufwand bedeutet, hätte man seitens der Eltern doch mitunter ein Jahr Zeit gehabt, sich der schulischen Nicht-Leistungen des Kindes anzunehmen. Um sich diesen Zusatz-Stress am Ende eines Schuljahres zu ersparen, wird vielfach, und das ist aus der Perspektive des einzelnen Lehrers auch nachvollziehbar, der einfachere Weg gewählt. Eben eine Beurteilung, bei der das "Nicht" vor dem "genügend" fehlt.

Viele Lehrer wählen deshalb einen scheinbar einfacheren Weg. Sie finden kurz vor Notenschluss zur Überzeugung, dass die Leistungen des Schülers doch "genügend" sind. Und tragen das auch in den Katalog ein. Damit wird aber das Beurteilungssystem ad absurdum geführt.

Zudem wirkt diese Vorgangweise auch auf die Schüler: Der Kandidat mit ursprünglich drei "Nicht genügend" hat plötzlich doch die Möglichkeit, im kommenden Schuljahr aufzusteigen. Er hat erlebt, dass man auch ohne die geforderten Leistungen zu erbringen weiter kommt. In seltenen Fällen spornt dies zu gesteigerten Leistungen in den kommenden Schuljahren an. Sehr wahrscheinlich wird dieser Schüler auch zu einem "Vorbild" für seine Mitschüler, denen er bewiesen hat, mit wie wenig Leistung man aufsteigen kann.

Hier aber die Schuld einfach den Lehrern zuzuschieben wäre zwar naheliegend, aber ist es auch richtig? Wie würden Sie in der Situation handeln? Mitunter wäre es sinnvoller darüber nachzudenken, wo hier im System der Fehler liegt. Beim Beurteilungssystem? Beim System, dass der Lehrende gleichzeitig der Beurteilende ist? Bei der Möglichkeit, jede Beurteilungsleistung eines Lehrers zu beeinspruchen?

Vergleicht man die Ergebnisse der PISA-Studie, so ist bei der Interpretation der Ergebnisse auch zu beachten, dass es etwa in anderen Ländern durchaus Unterschiede in der Rolle der Lehrer gibt. So ist in einigen Ländern beispielsweise die Rolle des Lehrenden von der des Beurteilenden - zumindest teilweise - getrennt.

Wäre eine Alternative, wie neuerdings wieder vermehrt vernommen werden kann, es den Schülern zu ermöglichen trotz mehrerer "Nicht genügend" in die nächste Schulstufe aufsteigen zu können? Österreichische Pilotprojekte der jüngsten Vergangenheit zeigen zu diesen Überlegungen zwar sehr dramatisch die Probleme auf, trotzdem wird diese Variante neuerdings wieder propagiert.

Egal, was als Lösung angesehen wird, eines ist wohl wieder zu betonen: Schnelle Lösungen sind möglicherweise gut vermarktbar. Aber wird auch darüber nachgedacht, ob sie nicht die Probleme von morgen schaffen?

Der Autor ist Organisationsentwickler mit Schwerpunkt im Bereich Schulentwicklung.