Die als "Diarium" gegründete "Wiener Zeitung" ist auch ein Lebenselixier.
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Potztausend, dieser Redaktionsschluss hat es in sich! Meldung für Meldung, Bericht für Bericht haben die Mitarbeiter des in wenigen Stunden erstmals in Druck gehenden "Wiennerischen Diarium" durchredigiert und jetzt, am Vormittag des 8. August 1703, spießt sich alles an der letzten Zeile!
Konkret geht es um die herrlichen Gesprächsstoff liefernde Rubrik Von Hohen und Niedrigen Standts-Persohnen Ankunfft unten auf der letzten Seite. Für den Zeitungsherausgeber in spe Johann Baptist Schönwetter (ca. 1670-1741) war es nicht leicht gewesen, vom Kaiserhof das Exklusivrecht zur Publikation der Liste wichtiger Wien-Gäste zu erhalten.
Noch beschwerlicher sollte es freilich vom ersten Tag an werden, das Verzeichnis bzw. Geschreibsel der an den Stadttoren amtierenden Wächter zu entziffern. Die Handschrift der Herren war schlicht zum Grausen.
Nicht genug damit. In der Übersicht für 1. bis 7. August 1703 blieb der Abschluss offen. Hatte man noch unter Rothenthurn (= Rotenturmtor) / den 6. Aug (Punkt entfiel im Druck) zwei Mitglieder der Familie von Stumfalls mit dem Vermerk kommen von Prag / logiren im wilden Mann (einst ein berühmter Einkehrgasthof) als Besucher melden können, fehlte beim 7. August jeder Hinweis auf Ankömmlinge.
Was tun so kurz vorm Premieren-Andruck der Gazette, der für Mittag/Nachmittag des 8. August angesetzt ist? Ein findiger Kopf - vielleicht handelt es sich um Hieronymus Gmainer (ca. 1663-1729), den ersten hauptberuflichen "Zeitung-Schreiber" Wiens - bewahrt Ruhe und weiß die letzte Druckzeile zu retten.
Er formuliert: Den 7. Aug. ist niemand kommen.
Dieser lapidare Satz in der Ur-Ausgabe des "Diarium" trifft wahrlich ins Schwarze, ist sozusagen ein journalistischer Blattschuss vor Blattschluss. Und Blattphilosophie - die Leserschaft soll erfahren, was war. Die Fakten zählen.
Auch im Leitartikel (Titel: Anmerckung) auf der zweiten Seite bekennt sich die Redaktion 1703 übrigens dazu, ohne einigen Oratorischen und Poëtischen Schminck / auch Vorurtheil / sondern der blossen Wahrheit derer einkommenden Berichten gemäß (...) zu informieren.
Die Sprache hat sich gewandelt, inhaltlich lautet das Rezept der Blattgestalter aber bis heute so. In den bisher 310 Jahren ihres Bestehens hat die als "Wiennerisches Diarium" gegründete "Wiener Zeitung" überdies so viel Erfahrung gesammelt, dass sich daraus wie von selbst ein weiteres Rezept ergibt: ein Leitfaden für sehr, sehr langes Leben.
Unzählige Periodika sah die von Drucker Johann Baptist Schönwetter initiierte Gazette kommen und gehen. Sie jedoch blieb. Aus derlei lässt sich wohl einiges fürs Menschendasein lernen.
Blicken wir zurück, ziehen wir unsere Schlüsse. Wie war das schon am ersten Tag des Blattes?
Kühlen Kopf bewahren, geradlinig agieren, Schwierigkeiten ins Auge schauen - das in etwa muss die Devise aller gewesen sein, die im Redaktionshaus "Rot(h)er Igel" wirkten (aufmerksame Zeitreisende kennen die Adresse des Nachfolgebaus: Wien 1, Ecke Brandstätte/Wildpretmarkt).
Als ebenso wichtig erwiesen sich in den anschließenden Jahrhunderten des Zeitungmachens eiserne Nerven und Zähigkeit. Es galt (und gilt) bittere Stunden durchzustehen, Kriege und Katastrophen. Und trotzdem an die Menschen zu glauben. Unentbehrliche Ingredienz dabei: Liebe zu Wissenschaft und Kultur!
Damit von der bisweilen grauen Theorie zur publizistischen Praxis.
Die Traditionszeitung, die heute ihr 310-Jahr-Jubiläum feiert, kann lachen, weinen, viel erzählen.
Skurriles wie den zum Glück vergeblichen Kampf von Johann Peter van Ghelen (1673-1754, Herausgeber ab 1722) gegen das Aufliegen des Blattes in Cafés aus Furcht vor Abo-Entgang.
Stolzes wie das Eintreten der Zeitung für die Freiheit 1789 (Erklärung der Menschenrechte) und 1848 (Protest gegen Habsburg).
Hartes wie Karls VI. Zensur (1711-1740 Kaiser; er strich u.a. die Rubrik prominenter Gäste) und Pressionen Metternichs (1773- 1859; am Staatsruder 1809- 1848), der dem Blatt das Lebenslicht ausblasen wollte.
Unerbittliches wie das Aus für die rot-weiß-rote "Wiener Zeitung" nach Österreichs Auslöschung 1938.
Freudiges wie das Wiedererstehen der "WZ" nach der Befreiung Österreichs.
Am fröhlichsten aber stimmt der Jungbrunnen, der das Blatt nun schon in seinem vierten Jahrhundert frisch erhält. Erraten: Das sind Sie, geneigte Leserinnen und Leser! Das einmalige, kluge und gebildete Publikum wurde schon 1703 von der Redaktion so geschätzt, dass sie die Abonnenten "Liebhaber dieses Diarii" titulierte. Somit Kompliment allen Lieberhaberinnen und Liebhabern der "WZ" anno 2013!
Kopfnuss: Sind die frühen Leserinnen und Leser (siehe Bilder) in einer Abo-Kartei?
Geknackte Kopfnuss: Eine Kartei fehlt, doch Quellen untermauern manches: Es gehörten wohl 7 der 8 Personen 1703 zum "Diarium"-Stammpublikum (Elisabeth Christine, später Kaiserin, ev. ab 1708).