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Wie man ein Genie erkennt

Von Peter Markl

Wissen
Cartoon: Jugoslav Vlahovic

Wahrscheinlich ist die Sammlung von Kernreso-nanzaufnahmen, die ein Team am us-amerikanischen Gesundheitsinstitut in Bethesda gesammelt hat, eine einzigartige wissenschaftliche Schatztruhe. Sie zeigt, wie sich die Gehirne von insgesamt 307 Kindern im Lauf von 17 Jahren entwickelt haben - beginnend im Alter von 6 Jahren und dann, immer wieder aufgenommen, bis über das Ende der Pubertät hinaus.


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Schon die organisatorische Leistung, Eltern und Kinder auf ein so lang dauerndes Projekt einschwören zu können, ist außerordentlich. Doch Judith Rapoport, die das Projekt auf die Beine gestellt hat, hatte mehr geplant als eine umfassende Langzeit-Dokumentation der Hirnentwicklung. Sie wollte Daten zu der ideologisch brisanten Frage sammeln, ob sich in diesen Kernresonanzaufnahmen irgendein Hinweis darauf fände, dass sich das Hirn eines hochbegabten Kindes von dem eines weniger begabten unterscheidet.

In Zusammenarbeit mit einem Team von der kanadischen McGill Universität hat man nun die Kernresonanz-Scans ausgewertet und dabei eine verblüffende Entdeckung gemacht: bei hochbegabten Kindern entwickelt sich das Gehirn anders als bei anderen Kindern. Hochbegabte haben nicht einfach "mehr Hirn" oder mehr von jenem Teil des Hirns, in dem man den Sitz der kognitiven Fähigkeiten vermutet. Die Hochbegabten unterscheiden sich von den anderen, weniger Begabten, lediglich durch die Art, in der sich bestimmte Regionen ihrer Großhirnrinde während der schnellen Hirnentwicklung verändern.

Der Intelligenzquotient

Die Brisanz der Untersuchung besteht im Rückgriff auf den Intelligenzquotienten als Maß für Intelligenz und Hochbegabung. Das Team vom "National Institut of Health" unterschied die Hochbegabten von den Übrigen an Hand der Resultate, welche die Kinder bei der Prüfung ihrer verbalen und nicht-verbalen Fähigkeiten in einem standarisierten Intelligenztest erzielten. Das ist vermintes Gelände. Es gibt kein zweites Forschungsgebiet, auf dem so viele ideologisch voreingenommene Arbeiten veröffentlicht wurden - und die Fronten scheinen sich nicht aufzuweichen. Erst im vergangenen Monat druckte "Intelligence", eine der auf diesem Gebiet führenden Zeitschriften, eine abenteuerliche, 18 Seiten lange Arbeit über mögliche Zusammenhänge zwischen "Temperatur, Hautfarbe, Pro-Kopf-Einkommen und Intelligenzquotient - im internationalen Vergleich" - und das war nicht etwa als Parodie speziell für den 1. April angefertigt worden.

Die Autoren der Arbeit sahen ihre Bastelei als einen Versuch, die Vermutung zu prüfen, dass Menschen, die in einem kälteren Klima leben, höhere Intelligenzquotienten haben als solche, die ihr Leben in einer warmen Klimazone verbringen. Das vorgelegte Resultat ist angesichts des intellektuellen Klimas, in dessen Umfeld das Thema geboren und behandelt wurde, nicht schwer zu erraten: Man fand, dass die Leute im Durchschnitt bei den Intelligenztests umso schlechter abschnitten, je verwöhnter sie von der Sonne waren.

(Die Herausgeber der Zeitschrift hielten es immerhin für notwendig, den Druck des Artikels mit einer speziellen Stellungnahme zu rechtfertigen, obwohl sie den Artikel ohnehin nur mit mehreren kritischen Stellungnahmen zusammen veröffentlichten.)

Die Probleme mit den Intelligenztests beginnen natürlich schon damit, dass selbst nach vielen Tausenden von Arbeiten das Ausmaß der Übereinstimmung über grundlegende Fragen unter den Experten immer noch überraschend gering ist.

Das gilt selbst für die Frage, was genau die Intelligenztests eigentlich messen. Ian J. Deary, Professor an der Universität Edinburgh und einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Intelligenzforschung, konstatiert zwar, dass die Ansichten darüber nicht so irritierend weit auseinanderklaffen, wie viele annehmen. Er verweist auf eine Umfrage unter führenden Experten, die 1988 gemacht wurde. Damals waren immerhin mehr als 99,3 % der Befragten der Ansicht, dass Intelligenz etwas mit der Fähigkeit zu abstraktem und logischem Denken zu tun hätte, und mehr als 96 % waren sich sicher, dass dabei auch Problemlösungskapazität und Lernfähigkeit wesentlich wären. Aber es gab auch signifikante abweichende Meinungen - so waren etwa 80 % der Meinung, dass das Gedächtnis eine entscheidende Rolle spiele, und rund 72 Prozent hielten die Schnelligkeit des Denkens für wichtig.

Aber Ian Dreary, der eine wunderbar klare, kurze, und nüchterne Zwischenbilanz der Intelligenzforschung verfasst hat, verweist auf die Grauzonen, welche die um die Reputation ihrer Vorhaben besorgten amerikanischen Psychologen nach mühevollen Versuchen, einen Konsens zu finden, 1996 abgesteckt haben: Was auch immer die Intelligenztests messen mögen, es ist klar, dass die Fähigkeit, bei den Tests gut abzuschneiden, in einer Wechselwirkung zwischen genetischen Anlagen und der Umwelt entsteht.

Einfluss der Gene

Wer hinreichend informiert ist, zweifelt nicht mehr daran, dass es einen signifikanten Einfluss der Gene auf Intelligenzunterschiede zwischen verschiedenen Menschen gibt. Man hat bisher allerdings nur sehr vage Vorstellungen davon, über welche Mechanismen eine Vielzahl noch nicht identifizierter Gene die Entwicklung der Fähigkeiten beeinflusst. Man weiß daher auch nicht, welche Elemente der Umwelt die Entwicklung der Intelligenz wirklich beeinflussen. (Das gilt etwa auch für den Einfluss der Ernährung auf die Intelligenz).

So widersprüchlich die Resultate bei einzelnen Untersuchungen auch waren - es lässt sich nicht wegdiskutieren, dass die Höhe des Intelligenzquotienten mit einer Reihe von einfacheren Charakteristika eines Hirnes einhergeht, etwa mit so etwas Primitivem wie seiner Größe. Ian Deary schreibt dazu lapidar: "Es gibt eine bescheidene Assoziation zwischen der Hirngröße und den Resultaten psychometrischer Tests. Doch wir wissen noch nicht, warum das so ist."Viele offene Fragen

Ein weiteres irritierendes Rätsel ist der sogenannte Flynn-Effekt: Die Intelligenzquotienten steigen von Generation zu Generation, und zwar so schnell, dass die Selektion der die Intelligenz fördernden Gene nicht dafür verantwortlich sein kann - zumindest nicht im Licht der heute bekannten genetischen Mechanismen. Verschiedene Gruppen von Menschen unterscheiden sich voneinander in den Resultaten von Intelligenztests. Man weiß nicht, wodurch diese Unterschiede in der Charakteristika der Häufigkeitsverteilung der Testresultate verursacht werden. Vor allem weiß man aber einfach zu wenig über wichtige Eigenschaften, welche von Intelligenztests nicht erfasst werden: Kreativität, Weisheit, praktischen Sinn, soziale Sensitivität.

Angesichts des Ausmaßes des Nichtwissens und der ideologischen Brisanz extrem umstrittener Versuche, die Lücken zu stopfen, fragen sich kritische Wissenschafter, warum man Intelligenztests immer noch einsetzt, wenn man doch nur vage Vorstellungen davon hat, was genau man damit eigentlich misst. Ian Deary merkt dazu an: "Ein Wissenschafter könnte irgendeinen Aspekt einer mentalen Funktion messen und auch zeigen, dass dabei manche Leute besser abschneiden als andere. Aber, wenn er wirklich ehrlich ist, dann kann er nicht behaupten, dass seine Versuchsresultate aus einer vorher vermuteten Definition der Intelligenz ableitbar wären. Aber vielleicht messen die Tests wirklich eine nachweisbar mentale Fähigkeit - und nicht eine Mischung rein physiologisch erklärbarer Körperfunktionen? Warum sollte man solche Resultate interessant finden?"

Die überzeugendste Antwort darauf ist denkbar bescheiden: Intelligenztests sind trotz aller berechtigter Kritik an ihnen interessant geblieben, weil sie sich als sehr nützlich erwiesen haben - als Instrumente zur klinischen Diagnostik, wegen ihrer prognostischen Fähigkeiten bei Eignungstests und ihrer Unterstützung bei der Lösung anderer praktischer Probleme.

Vielleicht aber - so Ian Deary - sind sie auch hilfreich als Einstieg in die Klärung des grundlegenden Problems, welche Unterschiede zwischen verschiedenen Gehirnen zu unterschiedlichen mentalen Fähigkeiten führen. In der Vergangenheit hat man an Unterschiede in physiologischen Parametern wie Reaktionszeiten, Effizienz der visuellen Datenverarbeitung und ähnliches gedacht - Eigenschaften, die man unabhängig von den Intelligenzquotienten messen kann.

Die neue Untersuchung eröffnet in diesem Kontext ein neues Forschungsfeld. Die Computerauswertung der Kernresonanz-aufnahmen zeigt, dass die Frage, wie viel Großhirnrinde ein Erwachsener hat, nicht sehr bedeutsam ist. Wichtiger ist, auf welchem Weg das sich rasch entwickelnde Hirn seine erwachsene Struktur erreicht. Spätentwickler scheinen dabei einen Vorteil zu haben.

Die Großhirnrinde

Bei allen Kindern begann die Großhirnrinde in der ersten Phase schnell zu wachsen, erreichte dann eine maximale Dicke und wurde in der dritten Phase wieder dünner. Die Hochbegabten hatten in der ersten Phase der frühen Kindheit eine etwas dünnere Großhirnrinde als die beiden anderen getesteten Gruppen, dann aber wuchs die Dicke der Großhinrinde schneller und länger als bei den anderen. Sie erreichten das Maximum erst relativ spät, mit etwa 11 Jahren, worauf eine Reduktion der Dicke einsetzte, die schneller erfolgte als der Abfall, den man bei den beiden anderen Gruppen gemessen hat.

Bei den normal begabten Kindern erreichte die Großhirnrinde bereits im Alter von 7 bis 8 Jahren ihre maximale Dicke. Mit etwa 19 Jahren, wenn aus den Kindern junge Erwachsene geworden sind, haben alle - die mit durchschnittlichen IQs (83 bis 108), die Begabten (mit IQs von 109 bis 120) und die Hochbegabten (mit IQs über 121) eine Großhirnrinde etwa derselben Dicke.

Das wirft sofort die Frage auf, welche Faktoren diese Veränderungen in der Dicke des Cortex bestimmen. Die Autoren der Arbeit konnten auf Grund ihrer Daten nichts dazu sagen, aber sie haben einige Spekulationen angestellt: der Cortex nimmt ja schon vor der Geburt an Dicke zu, die Umhüllung der gebildeten Neuronen mit einer isolierenden Myelin-Schicht trägt weiter zum Wachstum bei.

Der spätere Abfall könnte ein Zeichen dafür sein, dass sich die Verschaltung der Neuronen im Hirn konsolidiert und dass neuronale Verkabelungen, die nicht gebraucht werden, selektiv wieder eliminiert werden.

Es ist offensichtlich, dass diese Prozesse jenes Wechselspiel von genetischen Anlagen mit Umgebungsfaktoren bewirken, die es unsinnig machen, das Resultat dieser verschränkten Prozesse naiv "den Genen" oder "der Umwelt" zuschreiben zu wollen. Es gibt klassische Experimente mit Ratten, in denen man demonstriert hat, das die Dicke des Cortex der erwachsenen Ratten davon beeinflusst wird, wie anregend die Umgebung war, in der die jungen Ratten lebten. Und man hat selbst bei Menschen zeigen können, dass konsequentes Üben die Struktur des Cortex ändert.

Die neuen Resultate sind daher als Belegstücke weder für die Extremisten aus dem Lager der "Umwelt-Anhänger" noch für die Extremisten unter den "Gen-Gläubigen" brauchbar. Richard Passingham von der Universität Oxford konstatiert daher, dass man jetzt vielleicht mit Tierversuchen über das zellulare Wachstum der Großhirnrinde weiter kommen könnte: bei solchen Versuchen könnte man nämlich die Einflüsse von Genen und Umwelt entflechten und daher ein klareres Bild davon bekommen, welche Faktoren die Entwicklung des Cortex beeinflussen.

Literatur:

Ian J. Deary: Intelligence. A very short Introduction. Oxford University Press. 2001

IQ: Knowns and Unknowns. American Psychologist February 1966.

P. Shaw et al: Intellectual ability and cortical development in children and adolescents. Nature 440 (30 März 2006), Seite 676 - 679.

Peter Marklist Professor für Analytische Chemie an der Universität Wien, wo er zeitweise auch Methodik der Naturwissenschaften lehrte. Er ist sowohl Mitglied des Konrad Lorenz Instituts für Evolution und Kognitionsforschung, als auch des Kuratoriums des Europäischen Forums Alpbach.