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Wie man Krankheit verkauft -und damit sehr viel Geld macht

Von Wolfgang Kappler

Wissen

Kennen Sie schon die Mongering-Krankheit? - Sie befällt aufgeklärte, rational denkende und informierte Menschen ebenso wie labile, vorsichtige und ängstliche Individuen, und verbreitet sich besonders rasch in Kreisen derjenigen, die um jeden Preis alles zu tun bereit sind, um sämtlichen Normwert-Tabellen zu entsprechen. In einem Artikel im "British Medical Journal" haben die Londoner Allgemeinärztin Heide Iona, der Pharmakologie-Professor David Henry aus Newcastle und der australische Medizinjournalist Strahl Moynihan unlängst den Erreger vorgestellt: Die Pharmaindustrie.


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Im Grunde ist die Mongering-Krankheit Oberbegriff für eine Reihe ganz gewöhnlicher Unpässlichkeiten, vorübergehenden Missempfindungen, persönlichen Befindlichkeitsstörungen, alltäglichen Lebensrisiken und verschiedenen Life-Style- und Wohlstandsphänomenen, die durch gezielte "Aufklärungskampagnen" in den Rang eines medizinischen Problems gehoben werden. Monger bedeutet machen, hetzen, treiben. Ein war-monger ist ein Kriegstreiber, ein disease-monger jemand, der Krankheiten macht und einflüstert.

Auch Ärzte als Opfer

Opfer sind die Konsumenten medizinischer Informationen, also vielfach auch Ärzte, die es zwar besser wissen müssten, die sich aber trotz ihres Sachverstandes im bewusst angepflanzten Datendschungel der Industrie verirren und gewieften PR-Leuten der Pharmabranche auf den Leim gehen. Diese haben, weil sie bislang außer in den USA und Neuseeland beim Endkunden nicht für verschreibungspflichtige Medikamente werben dürfen, ein perfides System mit suggestiven Bausteinen entwickelt, um Krankheiten zu verkaufen.

"Viel Geld kann mit gesunden Menschen verdient werden, die glauben, dass sie krank seien", steigen die Autoren in ihre Abrechnung mit der Pharmaindustrie ein. Diese favorisiere den gebildeten und mündigen Patienten als Konsumenten und liefere deshalb ausführliche Informationen zu Krankheiten. Dazu würden die Grenzen an sich harmloser Beschwerden erweitert, Betroffenenzahlen erhöht und mögliche Krankheitsrisiken aufgebauscht, gab im "British Medical Journal" der australische Manager von Roche, Fred Nadjarian, unverblümt zu.

Plötzliche Sozialphobie und zigtausendfache Impotenz

Henry/Iona/Moynihan haben solche Kampagnen näher untersucht und konnten zeigen, wie Merck gewöhnlichen Haarausfall zum medizinischen Problem mit sozialen Auswirkungen erklärte, das mit dem Produkt Finasteride beseitigt werden könne. Roche hatte mit einer Kampagne Millionen von Australiern eine soziale Phobie angedichtet, die sich dank dem Angstlöser Aurorix in Wohlgefallen auflöse. Über Nacht hatten die Menschen zwischen Perth und Brisbane einen Reizdarm bekommen, gegen den Lotronex von GlaxoSmithKline helfen sollte, obwohl das Mittel in den USA wegen seiner Nebenwirkungen zurück gezogen worden war.

Auch litten, wie in anderen Nationen, plötzlich -zig Tausende Männer aus heiterem Himmel an Erektionsstörungen und griffen zu Pfizers Wunderpille Viagra. Und ebenso wie in Deutschland und anderswo touren auch in Australien die industriegesponsorten mobilen "Osteoporose-Forschungs-Stationen" und bieten kostenlose Knochendichtemessungen an. Dem Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" sagte dazu die Hamburger Gesundheitsforscherin Prof. Ingrid Mühlhauser: "Ich will Osteoporose nicht verharmlosen, aber es könnte passieren, dass die Frauen gesund in den Truck reingehen und so verunsichert wieder herauskommen, dass sie sich krank fühlen". Und alles wegen ein paar billiger Vitamin D-Pillen.

Meinung wird gemacht

Unter dem Deckmantel der Information fördere die Industrie Meinungsmacher, sagen die Autoren des Artikels "Krankheit verkaufen". Selbsthilfegruppen bekommen großzügige Zuwendungen, Hausärzte kistenweise Musterpackungen, Journalisten werden mit Preisen gebauchpinselt und Chefärzte dafür bezahlt, dass sie in den Medien und auf Kongressen die zweckdienlichen Krankheitsmodelle präsentieren, wie auch der Mitherausgeber des industriekritischen "Arznei-Telegramm", der Berliner Arzt und Apotheker Wolfgang Becker-Brüser bestätigt. "Im Grunde", so sagt er, "müssten solche Ärzte offen legen, wenn sie neben ihrer Tätigkeit auf der Gehaltsliste der Industrie stehen".

Becker-Brüser berichtet im Zusammenhang mit zweifelhaften Werbepraktiken, dass die Ludwigshafener Knoll AG (jetzt Abbott) zur Vermarktung ihrer verschreibungspflichtigen Schlankheitspille Reductil in Deutschland Adressen von Kunden der Textilbranche mit XXL-Größen gekauft und diese direkt beworben habe. "Das Unternehmen hatte damit zwar das Heilmittelwerbegesetz unterlaufen, blieb aber ungestraft. Hier müssten die Behörden reagieren", sagt der Berliner Pharmakritiker.

In diesem Wust an Informationen wird der Gesunde zum Konsumenten und der Kranke leidet ob seiner Verunsicherung. Die Autoren raten deshalb: Meiden Sie firmenfinanzierte Gesundheitsinformationen, sammeln Sie das Ihnen zugängliche Material unabhängiger Stellen und lesen Sie kontroverse Meinungen und Stellungnahmen. Bleibt noch anzufügen, dass die EU das Werbeverbot für verschiedene Medikamente zu lockern beabsichtigt. Die möglichen Folgen zeigen sich laut einem aktuellen Bericht im "Canadian Medical Association Journal".

Enorme Werbeausgaben

Dort heißt es, dass nach Zulassung der Endverbraucherwerbung in den USA die Ausgaben für Medikamente von 1983 bis 1998 um 84 Prozent gestiegen seien. Dabei hätten die 50 am stärksten beworbenen Medikamente allein 47,8 Prozent der Mehrkosten verursacht. Insgesamt seien die Werbeausgaben für Medikamente von 55 Mill. Dollar (1991) auf 2,5 Mrd. Dollar (2000) gestiegen. Geld, das sicherlich sinnvoller in der Forschung für mehr Produktsicherheit und eine bessere Medikamentenversorgung von Drittländern angelegt wäre.