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Wie sich der Vormensch "Lucy" durch Wald und Wiese bewegte

Von Eva Stanzl

Wissen
Eine 3D-Rekonstruktion zeigt ausgeprägte Muskeln in Becken und Beinen.
© Ashleigh Wiseman

Forscher rekonstruieren Muskulatur: Australopithecus afarensis ging aufrecht am Boden, turnte aber auch von Baum zu Baum.


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Wie bewegten sich die Vorfahren des modernen Menschen fort? Hinweise auf den aufrechten Gang geben bereits Fossilien der Australopithecinen, deren wohl berühmteste Vertreterin das 1974 in Äthiopien gefundene Teilskelett "Lucy" ist.

"Lucy" gehörte zur ausgestorbenen Art Australopithecus afarensis. Der Bau ihres Beckens und Oberschenkels zeigt eine Anpassung an die Fortbewegung mit aufrechtem Rumpf auf zwei Beinen. Lange war sich die Wissenschaft uneinig, wie genau ihre Schritte ausgesehen haben könnten. Es kristallisierte sich schließlich ein Konsens für die vollständig aufrechte Gangart heraus.

Ein Team der britischen Universität Cambridge reichert das Bild weiter an. Demnach war "Lucy" einerseits in der Lage, vollständig aufrecht zu gehen, konnte sich aber zugleich auch behände von Ast zu Ast bewegen.

"Heute ist der moderne Mensch das einzige Tier, das mit geraden Knien aufrecht stehen kann. Eine Rekonstruktion von Lucys Muskeln deutet darauf hin, dass sie die Zweibeinigkeit ebenso gut beherrschte wie wir, allerdings möglicherweise zugleich in den Bäumen zu Hause war. Lucy bewegte sich wahrscheinlich auf eine Art und Weise, die wir bei keiner heute lebenden Spezies sehen", wird Studienleiter Ashleigh Wiseman in einer Aussendung des Instituts für Archäologische Forschung der Universität Cambridge zitiert.

Wiseman nutzte frei zugängliche Daten des Fossils, um ein digitales Modell der 3,2 Millionen Jahre alten Muskelstruktur auf ihrem Gesäß und ihren unteren Gliedmaßen zu erstellen. Die Studie wurde in der Zeitschrift "Royal Society Open Science" veröffentlicht. Das Team hat 36 Muskeln, die bei "Lucy" viel größer waren und weitaus mehr Platz einnahmen als bei den heutigen Vertretern unserer Art, in jedem Bein nachgebildet.

So waren die wichtigsten Muskeln in den Waden und Oberschenkeln unserer Ahnin mehr als doppelt so groß wie bei Homo sapiens, der mehr Fett im Verhältnis zu Muskeln besitzt. 74 Prozent der Gesamtmasse von "Lucys" Oberschenkeln bestand laut der 3D-Simulation aus Muskel - beim heutigen Menschen sind es nur 50 Prozent. "Lucys Fähigkeit, aufrecht zu gehen, lässt sich nur mit Hilfe einer Rekonstruktion der Muskulatur, deren Größe und Struktur die Grundlage der aktiven Fortbewegung des Individuums bildet, nachweisen", erklärt Wiseman seine Sicht der Ergebnisse. Australopithecus afarensis lebte vor drei bis vier Millionen Jahre sowohl im offenen Grasland als auch in dichteren Wäldern in Ostafrika. "Die Rekonstruktion von ,Lucys‘ Muskulatur legt nahe, dass sie in der Lage gewesen wäre, beide Lebensräume effektiv zu nutzen", sagt der Archäologe.

Rotation der Gelenke, Position der Sehnen

"Lucy" war eine junge Erwachsene, die knapp etwas mehr als einen Meter groß war und um die 28 Kilogramm wog. Ihr Gehirn wäre etwa ein Drittel so groß wie das unsere gewesen. Für die Nachbildung der Muskeln der Homininen setzte Wiseman auf Daten von heute lebenden Menschen auf. Mithilfe von MRT- und CT-Scans der Muskel- und Knochenstrukturen einer modernen Frau und eines modernen Mannes konnten er und sein Team Muskelfasern und Sehnen kartieren und ein digitales Modell des Bewegungsapparats anfertigen. Dann wurden vorhandene virtuelle Modelle von "Lucys" Skelett mitsamt Gelenken wieder zusammengesetzt. Dabei wurden die Gelenksachsen definiert, die "Lucys" Drehbewegungen ermöglichten. Für die Positionierung ihrer Muskeln wurde Wissen über die moderne Muskulatur mit Spuren von Sehnen an dem Fossil zum Gesamtbild rekonstruiert.

Muskelrekonstruktionen haben sich schon zuvor bewährt. Zum Beispiel konnte mit ihrer Hilfe die Laufgeschwindigkeit des Raubsauriers T-Rex gemessen werden.