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"Wie stellen wir den Reichtum her?"

Von Walter Hämmerle

Europaarchiv

Der deutsche Parteienforscher Nils Diederich über die Herausforderungen der europäischen Sozialdemokratie. | "Sozialdemokratie braucht neue, politisch lukrative Ziele." | Linkspopulisten als intellektueller Rückschritt. | "Wiener Zeitung": Der deutsch-britische Liberale Ralf Dahrendorf nannte das 20. Jahrhundert das sozialdemokratische Jahrhundert. Welche Ideologie wird dem 21. Jahrhundert, zumindest seinen ersten Jahrzehnten, ihren Stempel aufdrücken? | Nils Diederich: Die Sozialdemokratie ist ein Produkt des Nationalstaats und seiner Rahmenbedingungen, Probleme zu lösen. Im 20. Jahrhundert hat sie, und das gilt für ganz Europa, ihre politischen Gestaltungsmöglichkeiten unter Berücksichtigung von Kosten und Nutzen ausgeschöpft.


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In Deutschland hat zu Beginn des Jahrzehntes Gerhard Schröder unter dem Schlagwort der Modernisierung im Gefolge des britischen Premiers Tony Blair eine Politik gestartet, die von der Überzeugung getragen war, dass die Kosten des Sozialstaats begrenzt werden müssen. Es ging darum, wie viel an sozialer Umverteilung wir uns noch leisten können. Mehr ist kaum möglich, deshalb muss sich die Sozialdemokratie für die Zukunft nach neuen politisch lukrativen Zielen umsehen.

Zum Beispiel?

Die Entstehung ökologischer Parteien hat etwa gezeigt, dass es in Sachen Umwelt und Nachhaltigkeit ein großes Defizit gibt. Die Entstehung linksextremer Parteien zeigt, dass die herkömmlichen Antworten der Sozialdemokratie auf die sozialen Probleme nicht mehr Anklang finden. Hier braucht es neue Ansätze, nur habe ich den Eindruck, dass die wenigen Antwortversuche schwammig, sehr pragmatisch und an der Tagespolitik orientiert sind.

Das kann kaum verwundern, wenn der Nationalstaat als Rahmen für Problemlösungen längst an seine Grenzen gestoßen ist und die Politik ihre Steuerungsfähigkeit verloren hat.

Das ist sicher richtig und deshalb finde ich es interessant, dass ausgerechnet die sozialistische Pasok-Partei in Griechenland gezwungen ist, einen radikalen Sparkurs unter enormem internationalen Druck durchzusetzen. Die Sozialdemokratie hat nur noch einen extrem begrenzten nationalen Handlungsspielraum aufgrund des Einflusses der Märkte und der internationalen Politik.

Welche Schlussfolgerungen ziehen Sie aus dieser Entwicklung?

Die einstige Prognose, dass sich der Kapitalismus selbst zerstören wird, ist grandios daneben gelegen. Deshalb hat sich die Sozialdemokratie ja auch schon sehr früh zu einer Reparaturpartei entwickelt, deren Ziel es ist, die Defizite des Kapitalismus zu beheben und nicht ihn abzuschaffen. Der Keynesianismus ist ja im Grunde genommen nichts anderes. Auf diese Weise entwickelte sich die Sozialdemokratie zum Gemisch einer bürgerlich-liberalen Reformpartei. Für die Zukunft stellt sich nun die Frage, ob die Sozialdemokratie auf diesem Weg einer Reparaturpartei fortschreiten kann.

Und wird sie das können?

Wenn nicht, hat sie jedenfalls eine schwierige Zukunft vor sich, ganz einfach weil ihre traditionelle Klientel, die Arbeiterschaft, nicht mehr existiert. Die Sozialdemokratie hat in der Vergangenheit eine zentrale Herausforderung für die Gesellschaft versäumt: Der Stellenwert der Nachhaltigkeit wurde nicht rechtzeitig erkannt. Nachhaltigkeit nicht nur in Bezug auf die soziale Umverteilung, sondern auch, was die Erhaltung von Wohlstand für die nächste Generation betrifft. Die Zukunft wird davon abhängen, ob sich die Grünen zu einer umfassenden Nachhaltigkeitspartei weiterentwickeln oder ob die Sozialdemokratie hier verlorenes Terrain wieder zurückerobern kann. Sie muss zu einer Reformpartei werden und darf keine reine sozialreformerische Umverteilungspartei sein. Letzteres war ihre Aufgabe im 20. Jahrhundert.

Sie beschreiben Schröders Reformen - Stichwort Hartz IV - als Versuch, die SPD zukunftsfähig zu machen. Andere sehen ihn als Totengräber der Partei, der Gründung und Aufstieg der Linkspartei zu verantworten hat.

Beides ist richtig, das ist kein Widerspruch. Wenn Sie sich den Programmentwurf von Oskar Lafontaine für die Linkspartei anschauen, dann werden Sie erkennen, dass es sich nur um eine aufgeblasene Wiederentdeckung der sozialdemokratischen Programmatik aus den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts handelt. Das ist nichts anderes als ein sozialromantischer Blick zurück: Möglichst viel Umverteilen, Banken verstaatlichen, Staatsinterventionismus - und alles ausgerichtet auf den Nationalstaat als Handlungskategorie. Es findet sich darin aber kein Wort darüber, wie der zusätzlich zu verteilende Wohlstand erwirtschaftet werden kann. Intellektuell ist dieser Programmentwurf ein Rückfall um mindestens 50 Jahre. Einfach nur den Reichen mehr wegzunehmen, kann kein erfolgreiches Gegenrezept sein; jeder, der nachrechnet, weiß, dass sich das nicht ausgehen kann.

Wo in Europa sehen Sie erfolgversprechende Ansätze, die Sozialdemokratie programmatisch zu erneuern?

Ich halte es für spannend, was derzeit in Frankreich geschieht. Damit meine ich weniger Segolene Royal als vielmehr Martine Aubry. Hier könnte sich ein neues sozialdemokratisches Bewusstsein dafür entwickeln, wie eine entwickelte Gesellschaft jenen Reichtum herstellen kann, den sie umverteilen will. Das ist die spannende Frage.

Das reiche Deutschland sieht sich jetzt mit Vorwürfen konfrontiert, sein Wohlstand beruhe auf Dumping-Löhnen zu Lasten der ärmeren europäischen Staaten.

Ich halte diese Debatte für völlig absurd. Schröders Reformen beruhten auf der Einsicht, dass die Kosten von Arbeit für die Wirtschaft auf erträglichem Niveau gehalten werden müssen. Diese Politik haben auch die Gewerkschaften in den vergangenen Jahrzehnten mit ihrer Zurückhaltung bei den Lohnverhandlungen verfolgt. All das geschah mit dem Ziel, die Exportfähigkeit zu steigern, weil diese eine wichtige Quelle für unseren Wohlstand darstellt. Auch die Medien machen es sich nun ein bisschen sehr einfach, wenn sie in der Krise einfach schreiben, dieser Weg führe zu einer Ausbeutung der Ärmeren, weil keine Lohnzuwächse mehr möglich sind.

Für die Politik muss es darum gehen, den Lebensstandard einer Gesellschaft zu erhalten, das setzt in Zeiten geringen Wachstums einer reinen Umverteilungspolitik einfach Grenzen. Das hat die Sozialdemokratie in den letzten Jahren zu wenig betont, und wo sie es offen angesprochen hat, ist sie von den Wählern abgestraft worden. Wichtig ist die Erkenntnis, dass der sozialromantische Weg der Linkspartei und anderer linkspopulistischer Kräfte heute nicht mehr möglich ist. Deshalb werden all diese Parteien auch früher oder später scheitern, davon bin ich überzeugt, obwohl es Experten gibt, die das anders sehen. Das wird spätestens dann der Fall sein, wenn sie ihre Versprechen einlösen müssen.

Zur PersonNils Diederich, geboren 1934 in Berlin, ist Professor für Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin mit Schwerpunkt Parteienforschung. Diederich ist seit 1952 Mitglied der SPD, von 1976 bis 1987 sowie von 1989 bis 1994 war er Abgeordneter zum Deutschen Bundestag. Foto: Marita Wagner

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Wissen: Tag der Arbeit

Der 1. Mai wird auch als Tag der Arbeit, Maifeiertag oder Kampftag der Arbeiterbewegung bezeichnet.

1886 rief die US-Arbeiterbewegung zur Durchsetzung des Achtstundentags zum Generalstreik am 1. Mai auf. In Chicago kam es in den folgenden Tagen zu gewaltsamen Auseinandersetzungen am Haymarket Square, bei denen zahlreiche Menschen starben. Die anschließenden Verurteilungen führten zu einem Aufschrei in Arbeiterkreisen und Protesten rund um die Welt.

In Österreich feiert die Arbeiterschaft seit 1890 den 1. Mai. 1919 wurde er zum Staatsfeiertag erklärt.