Wir agieren in einem Betriebssystem, in dem es längst nicht mehr darum geht, was wir wollen, sondern was wir müssen, um am (Arbeits-)Markt zu bestehen.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 5 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Um in der Ökonomie überleben zu können, müssen wir schneller, eifriger, umtriebiger, verschlagener, effektiver sein. Alle Kompetenzen sind diesen Imperativen unterzuordnen. Die Frage "Was will ich?" geht in der Frage "Was muss ich?" unter. Wir haben zu müssen. Darin liegt unsere Freiheit: sich am Markt zu verdingen.
Wir agieren in diesem Betriebssystem, nicht immer freiwillig, aber doch willig. Der Zwang zum Komparativ ist konstitutionell und konventionell. Das Mehr ist hier eine Frage des Prinzips und nicht der jeweiligen Situation. Dieser Zwang zum Mehr nimmt Größe nicht in ihren sozialen oder ökologischen Kontexten wahr, sondern ist fixiert auf Wachstum. Es gilt Absätze zu steigern und Gewinnspannen zu erhöhen. Das Quantum folgt den Kriterien des Kommerzes.
Klar und deutlich ist die Vorgabe: Wir haben uns zu verwerten. Dazu ist es nötig, sich permanent zu optimieren, zu bestehen im Kampf gegen die anderen. Wollen wir den Arbeitsplatz, den Standort oder die Kundschaft erhalten, haben wir uns entsprechend zu verhalten. Andauernd müssen wir uns upgraden und updaten, um auf dem erforderlichen Level mitspielen zu dürfen. Selbstoptimierung wird zur Pflicht. Sie ist nicht innerer Modus, sondern äußerer Stachel. Es gilt konkurrenzfähig zu werden oder zu bleiben: "Du hast alles aus dir rauszuholen!" Ausschöpfen ist angesagt. Dafür burnen wir, gelegentlich, ja zunehmend bis zum Out.
Der Taylorismus regiert ungebrochen. Was die Effizienz stört, stört. Optimiert heißt etwa für eine Verkäuferin in ihrem Job, keine Stehzeiten oder Ruhephasen mehr zu kennen; optimiert heißt, dass ihre Arbeit sich stets verdichtet. Jede Minute wird ausgenutzt, das heißt, die Arbeitskraftträgerin wird voll ausgenutzt. Davon will die Ökonomie nichts wissen, Folgeschäden werden externalisiert, sind keine unmittelbaren Produktionskosten, sondern Reproduktionskosten.
Diese Direktiven erhöhen allerdings nicht bloß die allseits glorifizierte Leistung, den Ausstoß, die Anstrengung; nein, sie erhöhen auch Blutdruck und Blutzucker, multiplizieren Arztbesuche, Drogenzufuhr und Alkoholkonsum, lassen Leberwerte steigen, führen zu Stress, Angst und Durchfall, zum Verlust der Lust und der Potenz. Kurzum: Sie entziehen Lebenskräfte durch Subordination unter die Erforderlichkeiten des Marktes. Andererseits multiplizieren sie auch wiederum die Zahlungsereignisse, die sich als Positiva im Bruttosozialprodukt niederschlagen. Bilanzen denken wir ja monetär.
Betrachten wir es von dieser Seite, sprechen wir also an, was sonst vergessen wird, dann sieht das "Mehr" auf einmal ziemlich irr aus. In diversen Varianten verunglücken die Menschen an den Komparativen; ja, es verunglückt der Komparativ auch schon selbst. Man denke nur an den Stau, der sich besonders deutlich im Verkehr (aber nicht nur dort) äußert. Der Stau kann überhaupt als eine allgemeine Metapher angesehen werden, wo die Menge mit Raum und Zeit kollidiert.
Man nimmt teil,ob man will oder nicht
Ökonomie meint Berechnung und Berechenbarkeit. Aus allen Poren tropft die Kostenrechnung. Darauf sind wir trainiert und konditioniert. Aus "Was spreche ich?" wird unweigerlich ein "Wie entspreche ich?". Alle unsere Gespräche sind Bewerbungsgespräche. Unsere Kontakte sind Geschäftskontakte. "Wie komme ich an?" meint: "Wie verkaufe ich mich?" Gerade der Auftritt darf nicht suboptimal verlaufen.
Wir leben laut dem Makrosoziologen Steffen Mau in Zeiten eines "Bewertungskults", einer "umfassenden Quantifizierung des Sozialen", deren Kennzeichen ist die "Universalisierung von Wettbewerb", der Modus die "Dauerinventur", wie er in "Das metrische Wir" (Suhrkamp 2017) schreibt. Ranking und Rating sind logische Konsequenzen. Man nimmt teil, ob man will oder nicht. Man spielt nicht bloß mit, es wird einem mitgespielt. Ranking und Rating sind mit Blaming und Shaming verbunden. Fordern geht vor Fördern.
Wer stets unter Druck ist, wird unterdrückt. Vor allem erzeugt diese Drangsalierung unleidliche Exemplare der Spezies. Empathie ist da fehl am Platz. Die mentale Grundhaltung des Misstrauens lässt jeden anderen als potenziellen Gegner erscheinen. Antipathie ist vorgegeben. Konkurrenz schlägt Solidarität, Feindseligkeit besiegt Freundschaft. Anerkennung erfolgt also nicht auf direktem Wege - von Du zu Du - sondern auf kommerziellem Umweg. Wichtig sind Fixierungen oder Fiktionen auf den Skalen durch ständige Beobachtung und Bewertung. Man kommt dem nicht aus. Gesagt ist damit nicht (obgleich unterstellt), was gut ist, sondern primär was geschäftstüchtig und geschäftsträchtig sein könnte. Wir, die bürgerlichen Subjekte, sind Träger unserer Geschäfte, profan ausgedrückt durch lebenslängliches Kaufen und Verkaufen.
Natürlich geht es den neoliberal formierten Exemplaren um die permanente In-Wert-Setzung ihres Humankapitals. Dazu sind wir bestimmt. Akzeptiert wird, wer und was sich verwertet. Das Selbstwertgefühl sinkt rapide, werden Individuen am Markt nicht anerkannt. Wehe denen! Nicht nur Arbeitslose spüren das, diese aber ganz besonders. Dass zu Wert immer Mehrwert und Minderwert(igkeit) gehören, versteht sich von selbst, muss aber eigens erwähnt werden.
In Werten zu denken, ist Form gewordener Inhalt
Hinter den Werten verbirgt sich die Verwertungspflicht. Es ist der Wert, der die Werte setzt. Bürgerliches Selbstbewusstsein verläuft auf einer Skala der Ab- und Aufwertung am Markt. Das jeweilige Einkommen regelt die Zugangs- und Beteiligungsmöglichkeiten, die auch über Integration und Desintegration entscheiden: Was haben? Wo dabei sein? Wie viel dürfen? Was darstellen? Die Bedingung dafür, etwas haben zu dürfen, ist, zahlen zu können.
Im Wert steckt auch alles drin, was uns so gespenstisch vertraut ist: die Konkurrenz, das Wachstum, das Ranking, der Preisvergleich und schließlich der Preis selbst. Der Wert ökonomifiziert das Vokabular und bestimmt dadurch unser Vorstellungsvermögen. Wir lassen das nicht nur zu, es fällt gar nicht als Besonderheit auf. So zu sprechen erscheint uns als selbstverständlich. Wir haben keine andere Sprache. Man denke bloß an (oft kaum ersetzbare) Begriffe wie Wertschätzung, Wertschöpfung, Bewertung oder wertvoll. Und der Werteworte werden neuerdings mehr: Werteschulungen, Wertekatalog, Werteerziehung, Wertevermittlung, Wertekanon, Wertepatenschaften. In Werten zu denken, ist Form gewordener Inhalt.
Die Frage "Wer oder was hat welchen Wert?" mag unter den gegebenen Umständen spannend sein. Spannender allerdings ist eine noch weiter reichende Frage: "Warum soll etwas einen Wert haben?" Woher kommt dieser Begriff überhaupt? Und warum hat er sich in den verschiedensten Varianten gesellschaftlich durchgesetzt? Zufall kann es ja nicht sein, dass wir dauernd von Wert und von Werten sprechen, als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt. Doch das ist geworden, nicht immer schon gewesen. Tatsächlich legt der Singular offen, was der Plural verschweigt. Die Kategorie des Werts hat sich ausgehend vom ökonomischen Sektor in alle gesellschaftlichen Bereiche gebohrt. Vor 200 Jahren hat das begonnen. Der Wert ist zum substanziellen Terminus geworden.
Wert und Werte sind dem gesunden Menschenverstand zu bejahende Assoziationen, alles andere als kritischen Größen. Schlimmer noch, als dass Menschen nichts wert sind, ist, dass Menschen überhaupt etwas wert zu sein haben. Anerkennung und Wertung sollte man sorgfältig auseinanderhalten.