Wahlwiederholung, Erklärungen oder 26 plus 1? | Brüssel. Viel Katzenjammer und politisches Getöse wird es in der EU nach dem Scheitern des Lissabonner Reformvertrags beim irischen Referendum geben. Und einen vorgefertigten Alternativplan gibt es noch nicht. Experten in Brüssel analysieren die Situation auch angesichts des politischen Sturmtiefs weiterhin nüchtern: Klar sei, dass der Lissabonner Vertrag so nicht in Kraft treten wird. Auswegmöglichkeiten gibt es einige, alle haben aber auch Nachteile.
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Am einfachsten wäre es, den Lissabonner Vertrag schlicht zu entsorgen und auf Basis des Vertrags von Nizza weiterzuarbeiten. Praktisch hätte das etwa den Nachteil, dass die EU weiterhin in vielen Bereichen wegen der notwendigen Einstimmigkeit nur höchst schwerfällig Entscheidungen treffen kann. Und politisch ist diese Variante nach dem jahrelangen Tauziehen praktisch auszuschließen: Dass die Funktionsweise der EU und ihre Außenvertretung verbessert werden soll, wollen fast alle Mitglieder - ganz zu schweigen von den Protesten aus dem EU-Parlament, das laut Lissabon viel mehr Mitspracherechte hätte.
Nizza als Vorbild?
Dass die Iren über den Vertrag einfach so lange abstimmen, bis ein "Ja" herauskommt, wäre ebenfalls möglich aber ist politisch kaum zu verkaufen. Attraktiv wäre für die EU eine Lösung wie nach dem gescheiterten irischen Referendum zum Nizza-Vertrag. Damals gab die Regierung eine Erklärung ab, in der etwa die unumstößliche Neutralität des Landes betont wurde. Das reichte um die Iren bei der zweiten Abstimmung Nizza-freundlich zu stimmen.
Möglich wäre auch, ein formelles EU-Protokoll mit der irischen Regierung auszuhandeln, in dem Irland schöne Zugeständnisse gemacht werden. Offen ist bloß, welche Ausnahmen die Insel zur ihren bereits bestehenden noch gerne hätte. Etwa bei der Justiz- und Polizeikooperation macht Irland nicht voll mit. Nicht auszuschließen ist auch ein Protokoll, das den Iren ausdrücklich noch einmal Rechte zusichert, die es ohnehin hat. Etwa Vetorechte bei Verteidigungs- und Steuerpolitik der EU. Auch auf recht absurde Vorwürfe der irischen Vertragsgegner könnte theoretisch eingegangen werden - etwa die Bestätigung, dass harte Drogen und Sterbehilfe weiter verboten bleiben. Gemeinsam mit dem Protokoll könnte über den Vertrag noch einmal abgestimmt werden, die anderen 26 Mitgliedsstaaten müssten nur mehr das Protokoll zusätzlich ratifizieren.
Politisch heikel ist die Variante lediglich, weil der Inhalt des Reformvertrags inzwischen von der Bevölkerung von drei EU-Staaten abgelehnt wurde. Inhaltlich entspricht er nämlich weitestgehend dem in Frankreich und den Niederlanden gescheiterten Verfassungsvertrag. Erneut würde versucht, das Paket mit einem juristischen Trick an den Mann zu bringen. Dennoch bleibt das die wahrscheinlichste Variante um ein Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten ("Kerneuropa") zu verhindern.
Denkbar, aber extrem kompliziert wäre auch, den Vertrag für 26 EU-Länder in Kraft zu setzen, nur für Irland gälte weiter der Nizza-Vertrag. Dazu müsste der Reformvertrag geändert werden: Die Inkraftsetzungsbestimmungen müssten modifiziert, ein komplexes Regelwerk für die Interaktion der Lissabon-Länder mit Irland geschaffen werden. Für Irland müsste der Nizza-Vertrag angepasst werden. So hätte Dublin etwa in Bereichen, die künftig mit Mehrheit entschieden werden sollten, weiterhin ein Vetorecht. Das politische Problem an dieser Lösung: Zumindest Tschechien und Großbritannien könnten die Ratifizierung einstellen und mit Irland gemeinsame Sache machen - das System 26 plus 1 wäre gescheitert, 24 plus 3 nicht möglich. Alle Länder müssten neu ratifizieren.