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Wie wir frieren, wenn es friert

Von Magnus Heier

Wissen
Wer gern friert, kann sich freuen: 2010 erlebte Österreich das kälteste Jahr seit 1996 - sechs Monate waren eindeutig zu kalt. Foto: Christiane Schröder

Eiswasser führt rasch zum Tod, doch eiskalte Luft macht schmerzfrei und lässt sich eine Weile ertragen. | Temperaturregulation ist viel komplexer, als man früher angenommen hat. | Den dramatischsten Kältetod erlitt natürlich Leonardo DiCaprio in dem Film "Titanic": Die Geliebte vor Augen, erfror er in minus zwei Grad kaltem Salzwasser innerhalb weniger Minuten und versank dann bewegungslos in der dunklen Tiefe des Atlantiks. Im Eiswasser hat auch ein Held keine Chance. | Wissen: Frieren


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Eiskalte Luft dagegen kann er ertragen: In einer Kältekammer etwa können Patienten bei trockener Luft von minus 120 Grad sitzen. In Badehose. Minutenlang. Und sind hinterher schmerzfrei. Denn Kälte kann auch heilen. Die extreme Kälte ist nur zu ertragen, weil die Luft äußerst trocken ist (so wie umgekehrt in der Sauna 100 Grad auch nur bei trockener Luft möglich sind, bei feuchter Luft verbrennt die Haut). Die Kälte dagegen hat einen deutlich schmerzlindernden Effekt - leider nur für etwa eine Stunde. In dieser Zeit allerdings lassen sich Patienten vom Physiotherapeuten schmerzfrei durchbewegen, was sonst nur unter stärksten Medikamenten möglich ist.

Die Kältekammer scheint übrigens ein uraltes Dogma zum Einsturz zu bringen: Seit Generationen wärmen sich Sportler vor einem Wettkampf auf. Es könnte sein, dass das genaue Gegenteil richtig ist - zumindest bei Ausdauersportarten. So wurde bei Sportlern, die sich zweieinhalb Minuten in einer Kältekammer aufhielten, eine Leistungssteigerung von bis zu zehn Prozent beobachtet. Die Theorie dahinter: Möglicherweise verschwendet der frierende Körper keine Energie für die Hautdurchblutung. Möglicherweise. Noch ist diese Beobachtung nicht zur Nachahmung empfohlen.

Die Temperaturregulation ist sehr viel komplexer als ursprünglich angenommen: Wann wir frieren, unterscheidet sich nicht nur zwischen Frau und Mann, zwischen Dicken und Dünnen. Das hat zunächst sehr einfache anatomische Gründe: Frauen (und Dicke) haben im Durchschnitt eine dickere Fettschicht und ein günstigeres Verhältnis zwischen Körpervolumen und Körperoberfläche. Die optimale Form, die am wenigsten auskühlt, wäre eine Kugel. Je mehr sich etwa ein großer, schlanker Mensch von dieser Form entfernt, desto mehr wird er frieren. Ein Punkt für die kleinen, dicken. Unabhängig von der Form haben Männer den Vorteil einer großen Muskelmasse, die auch im Ruhezustand schon Wärme produziert. Dieser Punkt ist wohl der entscheidende dafür, dass Männer weniger frieren.

Aber die Fähigkeit, Kälte zu ertragen, lässt sich auch trainieren. Tief im Gehirn, im sogenannten Hypothalamus, liegt ein körpereigener Thermostat, nicht größer als ein Fishermans Friend. Er misst nicht nur die Körpertemperatur, er entscheidet auch, ab wann der Körper auf Abweichungen von seiner optimalen Temperatur reagiert. Der Bereich, in dem der Mensch sich wohlfühlt und weder schwitzt noch friert, ist sehr eng. Diese Wohlfühlzone beträgt weniger als ein Grad: Sobald die Kerntemperatur des Körpers den Sollwert von 37 Grad um ein halbes Grad unterschreitet, friert der Mensch. Wird sie um mehr als ein halbes Grad überschritten, fängt er an zu schwitzen. Ein großer Aufwand für eine immer gleiche Temperatur.

Werte sind oft individuell sehr unterschiedlich

Dabei ist gar nicht klar, warum der menschliche Körper sich ausgerechnet an 37 Grad orientiert. Andere gleichwarme Säugetiere haben eine ganz andere optimale Temperatur: Die Fledermaus hält konstante 31 Grad, der Schnabel-igel nur 30, ein Wal immerhin 36,5 Grad. Am anderen Ende hält die Katze eine konstante Temperatur von 39 Grad, die Ziege 40 und die Spitzmaus sogar 42 Grad. Den Rekord halten die Vögel: Das Rotkehlchen hat eine Körpertemperatur von 44,6 Grad. Aber warum? Gerne wird von einer optimalen Temperatur für enzymatische Prozesse gesprochen - aber die Enzyme von Fledermäusen, Ziegen und Menschen sind mehr oder weniger dieselben.

Trotzdem zahlt der Körper, um seine 37 Grad zu halten, einen sehr hohen Preis - gemessen in Energie zum Heizen und Wasser zum Schwitzen. Aber dieser Sollwert ist nicht bei allen Menschen gleich. Er kann sich sogar innerhalb des Lebens verändern. "Man kann Menschen in der Klimakammer beobachten und dabei ihre persönliche Zwischenschwellenzone ermitteln", sagt Joachim Roth von der Veterinärmedizin der Universität Gießen. Dazu wird die Kerntemperatur in der Speiseröhre und die Hauttemperatur gemessen, der Sauerstoffverbrauch und die Aktivität der Schweißdrüsen, die Hautdurchblutung und das Muskelzittern. "Dabei kann man feststellen, dass sich diese Werte individuell sehr unterscheiden", sagt Roth.

Aborigines aus Australien haben eine um mehrere Grad nach unten ausgeweitete Toleranzzone. Sie zittern bei nächtlicher Kälte erst sehr viel später als ein durchschnittlicher Mitteleuropäer. Aber es geht auch anders: Die Alacaluf-Indianer aus Westpatagonien etwa haben ihren Metabolismus umgestellt: "Deren Energiegrundumsatz ist um 25 bis 50 Prozent gesteigert", sagt Roth. In Industrieländern dagegen kommt der Körper durch optimale Kleidung und temperierte Unterkunft gar nicht in den Kältebereich, in dem er sich anpassen müsste.

Aber auch wenn es warm ist, kann man frieren - vorausgesetzt, man fühlt sich einsam und isoliert. Die einfache Vorstellung reicht schon aus. Wie in einem Experiment, in dem die Teilnehmer sich an eine bestimmte Situation erinnern sollten: Die eine Hälfte sollte sich eine Situation vor Augen führen, in der sie sich ganz besonders ausgegrenzt fühlte. Die anderen sollten sich an Momente erinnern, in denen sie integriert und geborgen waren. Anschließend sollten die Teilnehmer die Raumtemperatur schätzen. Die "Geborgenen" empfanden den Raum als wärmer, die "Einsamen" als kalt. Frieren ist offensichtlich mehr als nur die einfache Reaktion auf eine objektiv kühle Umgebung.

Einsamkeit fühlt sich kalt an, aber es geht auch umgekehrt

So wie bei einer zweiten Studie mit einem Computerspiel. Die Probanden der einen Gruppe wurden von ihren Mitspielern konsequent geschnitten und bekamen einfach den Ball nicht. Die andere Gruppe dagegen war in das virtuelle Spiel integriert. Am Ende durften sich die Teilnehmer eine Erfrischung aussuchen: Kaffee oder Suppe, Apfel, Keks oder Cola. Die ausgeschlossenen Spieler entschieden sich häufiger für ein warmes Getränk, die integrierten für ein kaltes. Der Volksmund spricht von erkalteter Liebe oder von kühl distanzierten Menschen. Und er hat wohl recht: Einsamkeit fühlt sich kalt an. Aber es geht auch umgekehrt. Wenn Probanden einen heißen Kaffee in der Hand halten, finden sie ihr Gegenüber sympathischer als mit leeren, kalten Händen. Ein starkes Argument für einen gemeinsamen winterlichen Glühwein.