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Mit "Big Data" sind auf hoher Wahrscheinlichkeit basierende Vorhersagen darüber möglich, wie "der Mensch" lernt.
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Mit Big Data gewinnen wir einzigartige Erkenntnisse darüber, wie "der Mensch" lernt, aber vor allem, wie jeder Einzelne von uns Wissen erwirbt. Doch diese Einblicke in die Bildung sind nicht vollkommen. Was wir "über das Lernen lernen", ist probabilistisch. Wir können mit einer hohen Wahrscheinlichkeit vorhersagen, was jede und jeder Einzelne braucht, um ihre oder seine Lernleistung zu steigern: welche Lehrmittel am besten funktionieren, welcher Unterrichtsstil und welche Feedback-Mechanismen. Doch das sind und bleiben auf Wahrscheinlichkeiten beruhende Vorhersagen.
Zum Beispiel können wir herausfinden, dass ein bestimmter Typ von Unterrichtsmaterial die Testergebnisse einer konkreten Person mit einer Wahrscheinlichkeit von 95 Prozent verbessert: eine ziemlich genaue Vorhersage. Dennoch werden wir uns in einem von 20 Fällen irren, und die Leistung wird nicht besser werden. Das heißt nicht, dass wir solche Vorhersagen ignorieren sollten. Sie sind dem herkömmlichen Einheitsunterricht allemal überlegen. Sie erlauben einen maßgeschneiderten und doch erschwinglichen Unterricht. Aber wenn wir uns an solchen Prognosen orientieren, müssen wir uns die Grenzen der Erkenntnisse bewusst machen, die wir so gewinnen. Es sind probabilistische Erkenntnisse; sie bieten keine Gewissheit.
Chancen werden im Zeitalter von Big Data klarer sichtbar
Den meisten Menschen sind Wahrscheinlichkeiten etwas suspekt. Wir bevorzugen binäre Antworten: ja oder nein, an oder aus, schwarz oder weiß. Das liefert uns vermeintlich direkte und unmittelbare Entscheidungsgrundlagen. Was aber, wenn eine Big-Data-Analyse ergibt, dass unsere Tochter nach einem Wechsel zu diesem oder jenem Lehrbuch mit einer Wahrscheinlichkeit von 70 Prozent besser Mandarin lernt? Reicht uns das für einen Wechsel? Sind wir bereit, das Risiko einzugehen, dass wir in drei von zehn Fällen falsch liegen?
Und was, wenn die Wahrscheinlichkeit einer Leistungsverbesserung bei 70 Prozent liegt, aber das Ausmaß der Verbesserung eher dürftig ist - vielleicht fünf bis zehn Prozent? Und würden wir sie immer noch wechseln lassen, wenn das neue Buch denen, die nicht davon profitieren, erheblich schadet - sie etwa in Prüfungen um eine ganze Note schlechter abschneiden lässt? Nehmen wir für eine große Chance auf eine geringfügige Verbesserung das kleine Risiko einer dramatischen Verschlechterung in Kauf? In einem probabilistischen Universum müssen wir solche Chancen und Risiken oft gegeneinander abwägen und uns im vollen Bewusstsein der Unsicherheit entscheiden.
Das mag bei Amazon-Kaufempfehlungen oder den Ergebnis-
sen von Google Translate angehen, um zwei Beispiele für auf Wahrscheinlichkeiten beruhende Vorhersagen auf der Basis von Big-Data-Analysen zu nennen. Ein Irrtum hat da keine verheerenden Folgen. Aber wenn es um den Bildungsweg von Menschen geht, der sich stark auf ihre Zukunft auswirken kann, sieht das anders aus.
Natürlich haben wir schon immer in einer Welt der Wahrscheinlichkeiten gelebt. Wir haben es nur nicht bemerkt. Wann immer eine Lehrerin besorgten Eltern erklärt hat, dass ihr Kind die Schule wechseln, andere Fächer belegen, eine Prüfung wiederholen oder ein bestimmtes Buch verwenden sollte, waren das keine absoluten Wahrheiten, sondern ebenfalls probabilistische Interventionen. Der große Unterschied ist, dass wir diese Dinge heute messen und quantifizieren und daher bestimmter darüber sprechen können. Wir können benennen, wie sicher - und damit zugleich: wie unsicher - wir uns der Sache sind. Im Zeitalter von Big Data werden unsere Chancen klarer sichtbar. Das macht auch Angst.
Denken in Korrelationen, nicht in Kausalzusammenhängen
Big-Data-Vorhersagen werden immer präziser und detaillierter, und so dürfen wir den Wahrscheinlichkeiten, auf denen unsere Entscheidungen aufbauen, auch immer mehr Vertrauen schenken. Das kann zu konkreteren und nuancierteren Empfehlungen führen, zu Eingriffen, die besser auf den Einzelnen abgestimmt und vielleicht weniger drakonisch sind als in der Vergangenheit. Statt etwa zu verlangen, dass eine Schülerin die ganzen Sommerferien in einem Mathematik-Nachhilfekurs verbringt, können wir beispielsweise punktgenau den Besuch eines zweiwöchigen Repetitoriums zum Thema quadratische Gleichungen empfehlen.
Doch wir müssen in einer weiteren Hinsicht umdenken, was uns die Akzeptanz von Big Data erschwert: Wir müssen uns von der Überzeugung verabschieden, wir könnten einfach Kausalzusammenhänge aufdecken. Big Data zeigt uns meist nur Korrelationen auf. Diese Korrelationen - mutmaßliche Verbindungen und Zusammenhänge zwischen Variablen, die wir zuvor womöglich nicht wahrgenommen haben - verraten uns nicht, warum etwas geschieht, sondern nur, was geschieht. Aber das reicht mit-
unter aus, um Entscheidungen zu treffen.
Zum Beispiel fußt Luis von Ahns Erkenntnis, dass spanische Muttersprachler die unterschiedlichen Personalpronomina im Englischen besser zu zwei verschiedenen Zeitpunkten lernen, auf Korrelationen.
Auch die Methode, mit der Andrew Ng die Posts in seinem Kursforum danach sortiert, wie stark ihre Lektüre die Prüfungsergebnisse der Studenten verbessert, beruht auf Korrelationen. Man erfährt nichts über die Gründe, über die Ursachen, die den Phänomenen zugrunde liegen. Es geht nur um das Was, nicht um das Warum.
Auf Korrelationen zu vertrauen ist nicht leicht. Wir sind darauf eingestellt, die Welt als Folge von Ursachen und Wirkungen zu sehen. Die Überzeugung, eine Ursache entdeckt zu haben, beruhigt uns; sie gibt uns das Gefühl, dass wir verstehen, was die Welt im Innersten zusammenhält. Aber in Wirklichkeit haben wir trotz aller Bemühungen viel seltener echte Kausalzusammenhänge aufgedeckt, als wir glauben. Denn oft erweisen sich unsere schnell aufgestellten Hypothesen über ursächliche Zusammenhänge bei näherem Hinsehen schlicht als falsch.
Bildung mittels mächtiger elektronischer Plattformen
Das heißt nicht, dass es unzutreffend wäre, Ursachen zu vermuten, oder dass wir aufhören sollten, Kausalitäten hinterherzujagen. Ganz im Gegenteil. Aber es empfiehlt sich, unsere Fähigkeit zum Begreifen der Welt, die uns umgibt, realistischer einschätzen. Statt immer gleich mit großem Aufwand dem oftmals flüchtigen "Warum" nachzustellen, könnten wir besser damit fahren, zunächst pragmatisch das "Was" zu erfassen, über das uns nichtkausale Analysen Aufschluss geben.
Mit Big Data können wir solche Voraussagen nutzen, um die Art und Weise unseres Lehrens und Lernens zu verbessern. Die legendäre einklassige Schule inmitten der Prärie wird durch mächtige elektronische Plattformen ersetzt.
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"Lernen mit Big Data - Die Zukunft der Bildung" heißt das neue Buch von Viktor Mayer-Schönberger und Kenneth Cukier, das am 15. August im Redline Verlag erscheint. Der Text auf dieser Seite ist ein Vorabdruck aus diesem Werk. Mit dem Begriff "Big Data" werden die Möglichkeiten beschrieben, die das Sammeln, Vernetzen und Analysieren riesiger Datenmengen bietet, was natürlich auch Angst vor einem "Big Brother", der alles überwacht, aufkommen lässt.
Der Österreicher Viktor Mayer-Schönberger, Professor am Internet-Institut der Universität Oxford, und Kenneth Cukier, Datenexperte beim "Economist", zeigen Positives an dieser Entwicklung auf, nämlich, wie "Big Data" schon heute im Bildungswesen - etwa vom Informatiker Andrew Ng an der Stanford-Universität, oder Luis von Ahn, Professor an der Carnegie Mellon University - mit Erfolg verwendet werden. Ihr Fazit: "Big Data hilft Lehrern zu ermitteln, was am effektivsten ist. Ihre Tätigkeit wird dadurch nicht überflüssig, sondern produktiver und vermutlich auch befriedigender. Schulverwaltungen und Bildungspolitiker können zu geringeren Kosten den Menschen höhere Bildungschancen bieten - wichtige Faktoren, um die Einkommensunterschiede und das soziale Gefälle in der Gesellschaft verringern."