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Das strategische Paradigma führt die nukleare Abrüstung in eine Sackgasse. Die humanitäre Bewegung könnte einen Ausweg bieten.
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Vor genau 50 Jahren wurde Stanley Kubricks Satire "Dr. Strangelove or: How I Learned to Stop Worrying and Love the Bomb" uraufgeführt. Vieles hat sich seither verändert. Der Ost-West-Konflikt als Impulsgeber der nuklearen Rüstungsdynamik zwischen den USA und Russland fand ein friedliches Ende, und das materielle Erbe dieser Dynamik wird kooperativ reduziert. Nicht verändert hat sich jedoch die dominante Geisteshaltung, die diese Filmikone des Kalten Krieges unübertroffen parodiert. Bis jetzt - denn unbemerkt von einer breiteren Öffentlichkeit formiert sich eine Bewegung, die eine neue, humanitäre Perspektive auf Nuklearwaffen forciert und damit zu deren Abschaffung beitragen könnte.
Die dominante Geisteshaltung beruht auf der Annahme, dass Atomwaffen - die Rationalität und Unfehlbarkeit des Besitzers sowie eine Zweitschlagfähigkeit vorausgesetzt - den ultimativen Garanten nationaler Sicherheit und internationaler Stabilität darstellen. Als zentrales Indiz dient das Ausbleiben von Großmachtkriegen nach 1945, wenngleich dieser Zusammenhang in der Wissenschaft umstritten ist. Eine jüngere Facette des Paradigmas ist die Initiative von George Shultz, William Perry, Henry Kissinger und Sam Nunn, die 2007 den Anstoß für die gegenwärtige Abrüstungsdebatte gaben. Diese "Vier Weisen" argumentieren, Nuklearwaffen hätten im 21. Jahrhundert keinen Nutzen, die potenziellen Kosten aber seien vor allem angesichts des möglichen Atomterrorismus enorm.
Die Dominanz des strategischen Paradigmas hat Bemühungen zur substanziellen nuklearen Abrüstung in eine Sackgasse geführt. Atomwaffenstaaten stehen diesen Bemühungen skeptisch bis ablehnend gegenüber, wodurch erheblicher Druck auf das Nichtverbreitungsregime entsteht. Zudem haben Kosten-Nutzen-Argumente gegen Atomwaffen nicht das Interesse der Öffentlichkeit geweckt, weshalb der Abrüstungsbewegung ein zentraler Hebel der politischen Einflussnahme fehlt.
Einen Weg aus dieser Sackgasse kann die humanitäre Bewegung bereiten, die sich jüngst zu ihrer zweiten Konferenz in Mexiko traf und auf Initiative des österreichischen Außenministeriums ein drittes Mal in Österreich tagen wird. Diese stetig wachsende Bewegung aus Staaten und Nichtregierungsorganisationen ist bestrebt, den strategischen durch einen humanitären Imperativ zu ersetzen. Schon jetzt ist es das Verdienst der Bewegung, dass sie das Bewusstsein für menschliches Leid als Konsequenz von Produktion, Tests und Einsatz von Atomwaffen wieder im Diskurs verankern konnte, nachdem das strategische Paradigma dieses mit seinem Fokus auf die (In-)Effektivität von Atomwaffen als Instrumente nationaler Sicherheit über Jahrzehnte verdrängt hatte.
Diese neue Perspektive ist nicht nur moralisch gerechtfertigt, sondern könnte auch in der Abrüstung neue Wege erschließen - nicht zuletzt, weil menschliches Leid stärker mobilisiert als strategisches Kalkül - und schließlich einen Paradigmenwechsel herbeiführen, durch den Stanley Kubricks Film endlich von einer zeitlosen Satire zu einer Satire über eine vergangene Zeit würde.