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Wie zwei Frauen die Flucht aus Butscha gelang

Von Martin Tschiderer

Politik
© reuters / Oleksandr Ratushniak

Eine Frau und ihre Mutter konnten wenige Tage vor den Massakern aus der Stadt flüchten. Ihr Sohn in Wien half mit Infos zu Fluchtkorridoren.


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In der ersten Woche nach dem russischen Überfall konnte Danylo kaum schlafen. Zwei, drei Stunden pro Nacht wurden es, wenn es viel war. Nach dem frühen Erwachen wanderte der erste Blick aufs Handy. Wo waren die Russen jetzt? Welche Landstriche hatten sie eingenommen? "Am schlimmsten war das weltweite Schweigen in den ersten Tagen", sagt Danylo, der eigentlich anders heißt. Mit der internationalen Anerkennung des russischen Angriffskrieges als völkerrechtswidrig wurde seine Stimmung aber ein wenig besser. Und auch auf persönlicher Ebene passierte langsam etwas. "Ich war fast ein wenig erschrocken", erzählt der Endzwanziger. Denn die Nachrichten gingen ihm nicht mehr genauso nahe wie in den ersten Tagen. Der Mensch gewöhnt sich auch an schreckliche Bilder, wenn er muss. Die körpereigenen Schutzfunktionen wirken, um schneller wieder einen klaren Kopf zu kriegen.

Den klaren Kopf brauchte Danylo aber nicht, um sein eigenes Leben zu retten. Sondern das von zwei seiner nächsten Angehörigen. Denn Danylo lebt seit gut eineinhalb Jahren in Wien. Er kam nach Österreich, um zu studieren, als noch niemand ahnte, dass in seiner alten Heimat bald wieder Schüsse aus Panzerrohren fallen und Granaten die Häuser seiner früheren Nachbarn zerstören würden. Aber als die Nachrichten die Invasion der russischen Truppen in Butscha vermeldeten, einer Stadt, von der die allermeisten in Wien noch nie gehört hatten, da wusste Danylo: Die Soldaten und die Panzer sind jetzt genau dort, wo meine Mutter und meine Großmutter leben.

Danylos Mutter bewohnt in Butscha seit Jahren ein kleines Einfamilienhaus, die Großmutter eine Wohnung ganz in der Nähe. Danylos Mutter arbeitete an der Uni in Kiew und pendelte die rund 25 Kilometer aus Butscha. Pandemiebedingt mit Fernlehre sah sie die Hauptstadt zuletzt aber ohnehin seltener. Butscha liegt nordwestlich der ukrainischen Metropole und hat gut 35.000 Einwohner. Viele Bewohner von Kiew haben hier Wochenendhäuser. In der von Norden gestarteten Offensive auf die Hauptstadt war die russische Armee bald in Butscha angekommen - aufgrund des nahen Flughafens Hostomel war die Gegend strategisch wichtig. Nach schweren Kämpfen fiel die Stadt.

Artilleriebeschuss und plündernde Soldaten

"Als die Russen kamen, gingen meine Mutter und meine Großmutter in den Keller", erzählt Danylo. Gerade 500 Meter entfernt war kurz zuvor eine russische Rakete in ein Hochhaus eingeschlagen. Von draußen hörte man Artilleriebeschuss. Fast die ganze Zeit verbrachten die beiden Frauen darauf im Keller - nach den ersten Tagen auch ohne Strom und Heizung. Sie schliefen dort, sie aßen dort. Nur gelegentlich wagten sie sich nach oben. Nach draußen gingen sie bald gar nicht mehr. Denn als ein Nachbar das einmal versuchte, gab ein Soldat einen Warnschuss ab, der nur knapp seinen Körper verfehlte. Und als Danylos Mutter einmal aus dem Fenster blickte, sah sie, wie russische Truppen Häuser in der Nachbarschaft durchkämmten. Und sie sah plündernde Soldaten.

Vielen Bewohnern nahmen sie die SIM-Karten der Handys ab. Denn mit russischen Nummern konnte man zu diesem Zeitpunkt bereits nicht mehr aus der Ukraine nach Russland telefonieren. Russische Soldaten nahmen daher ukrainische SIM-Karten an sich, um damit Richtung Heimat zu kommunizieren. Nebeneffekt: Den Ukrainerinnen und Ukrainern erschwerte man damit auch die Kommunikation untereinander und den Austausch von Informationen zu den Bewegungen russischer Truppen. Ein anderer Nebeneffekt: Der ukrainische Geheimdienst konnte so um einiges mehr an kriegsrelevanter Kommunikation der Russen abfangen.

In Butscha jedenfalls schien es nur eine Frage der Zeit, bis russische Soldaten auch ins Haus von Danylos Mutter eindringen würden. Und wer sollte wissen, was dann alles passieren könnte? Eines wurde in diesen Tagen klar, erzählt Danylo: Sobald sich auch nur irgendeine Möglichkeit dazu ergeben würde: "Nichts wie raus aus Butscha."

Grüne Korridore als letzte Chance

Danylo war mit seiner Mutter im permanenten Kontakt. Während er in seinem sicheren Studentenzimmer in Wien saß, telefonierte er und schickte Nachrichten nach Butscha. Und er verfolgte die internationalen Nachrichten, jede kleinste neue Entwicklung. "Ich beobachtete rund um die Uhr, was passiert", sagt Danylo. Doch die Internet-Verbindung brach langsam ein. Messenger-Nachrichten drangen bald nicht mehr zu seiner Mutter durch. Und auch SMS kamen nicht mehr zuverlässig an. Die langen gar nicht mehr, die kurzen nur manchmal. Die Zeit begann zu drängen, das wusste Danylo in Wien.

Und irgendwann las er die Nachrichten von sicheren Fluchtkorridoren. Auch in Butscha sollte es sie geben, an einzelnen Tagen, um der Zivilbevölkerung ein Verlassen der Stadt zu ermöglichen. Doch wie verlässlich konnte dieses Zugeständnis schon sein, in einem Angriffskrieg, der mit dreisten Lügen begonnen hatte und mit noch dreisteren seine Fortsetzung findet? Und doch wussten Danylo und seine Familie: "Das war die einzige Chance."

In wenigen Tagen sollte der erste Korridor realisiert sein. Man tauschte sich weiter aus, die beiden Frauen bereiteten sich vor. Doch dann plötzlich: Funkstille. Der Kontakt war abgebrochen. Mehrere SMS von Danylo. Am Abend wieder neue. Doch keine Antwort. Denn am Tag, bevor sich die beiden Frauen auf den Weg machten, hatten russische Soldaten auch ihnen die SIM-Karten abgenommen - nachdem sie die Nachrichten und Fotos der Handys durchsucht hatten. Danylos Mutter hatte seine Nachrichten in weiser Voraussicht gleich nach dem Lesen wieder gelöscht.

Russische Truppen durchkämmten das Haus

Da war es also auch im Haus von Danylos Mutter so weit gewesen: Russische Soldaten hatten auch an ihre Türe geklopft. Die bewaffneten Männer kamen ins Haus, durchkämmten es, durchsuchten alle Zimmer, den Keller, den Garten, die Garage. "Sie suchten nach ukrainischen Militärs, die sich vielleicht im Haus verstecken könnten", sagt Danylo. Die Soldaten waren rau und angsteinflößend. Sie zerstörten ein paar Gegenstände im Haus, eher aus Versehen, aber es gab keine Gewalt. Bei vielen anderen Bewohnerinnen und Bewohnern von Butscha war das anders.

Am zweiten Tag mit Korridoren aber packten die Frauen ihre Sachen. Und machten sich zunächst zu Fuß zum Platz auf, an dem der "grüne Korridor" starten sollte - Reisebusse sollten die Menschen von dort aus der Stadt bringen. Schon auf dem Weg erfuhren sie, dass das Befahren des Korridors auch mit dem eigenen Auto möglich war. Sie kehrten rasch um, luden die wichtigsten Dinge ein und machten sich mit ihrem Auto auf den Weg. Eine glückliche Entscheidung in letzter Minute, wie sie heute wissen. Denn private Pkw konnten an den russischen Checkpoints deutlich öfter und leichter passieren. Bussen mit dutzenden Insassen wurde das schwerer gemacht. Einige von Danylos Freunden wollten die Stadt am selben Tag wie die beiden Frauen per Bus verlassen. Ihnen erlaubte man das aber erst nach langem Warten mehrere Tage später.

Letzte Hürde Checkpoint bei der Flucht per Auto

Im Auto, auf der Straße des grünen Korridors, hörten die beiden Frauen Schüsse und Artilleriefeuer. "Soldaten hatten wohl Spaß daran, den Menschen Angst einzujagen", sagt Danylo. Die größte Angst von Mutter und Großmutter war aber nicht, am Weg erschossen zu werden - sondern festgehalten und nach Russland "evakuiert" zu werden. Am Checkpoint durchsuchten russische Soldaten das Auto der beiden Frauen. Der Kofferraum wurde besonders genau inspiziert, ein Gastank im Auto erregte besondere Aufmerksamkeit der bewaffneten Männer. Atemlose Minuten. Schließlich ließ man die Frauen passieren.

Und so konnten Mutter und Großmutter losfahren, kamen mit dem Auto über die Hauptstadt Kiew bis nach Österreich, bis nach Wien, wo Danylo sie in die Arme nahm. Inzwischen sind sie bei einer Wiener Familie untergekommen und können bis auf Weiteres dort bleiben. Danylos Großvater, er hatte vor einiger Zeit einen Herzinfarkt, ist dagegen aktuell noch in einem Krankenhaus in der ukrainischen Stadt Winnyzja. "Wir hoffen, dass die Lage dort möglichst sicher bleibt", sagt Danylo.

Viele andere Bewohnerinnen und Bewohner von Butscha hatten weniger Glück als die beiden Frauen. Als die Zeit der grünen Korridore vorbei war, gab es keine "sichere Flucht" mehr aus der Stadt. Wie das für etliche Einwohner ausgegangen ist, zeigten die Bilder der Kriegsverbrechen, der Massaker, die Butscha für immer verändern werden.