Noch vor einem Jahrzehnt wurde Andermatt tot gesagt. Mit der Schweizer Militärreform verlor der Ort seinen wichtigsten Wirtschaftsfaktor. Der Investor Samih Sawiris versucht nun, dem Ort neues Leben einzuhauchen.
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Zufällig kommt hier kein Reisender vorbei. Nebel und feiner Schneefall behindern die Sicht im engen Bergtal. Ein Tunnel noch, dann quert die Matterhorn-Gotthard-Bahn die Schöllenschlucht. Ein Abgrund tut sich auf. Heraus ragt die Teufelsbrücke - sagenhaft ihre Erbauung. Damit war der Weg nach Süden über das Gotthard-Massiv endlich frei. An dieser Route liegt Andermatt im Urserental. Einst war es pulsierendes Herz der Nord-Süd und Ost-West Verkehrsachsen über die Alpen. Doch seine historische Bedeutung ist vergessen. Nichtsahnend brausen die Reisenden durch den Gotthardtunnel nach Bella Italia. Depression herrschte hier, als das Militär seit den Achtziger Jahren abzog und mehr als 20 Prozent der Bewohner abwanderten.
Am Bahnhof in Andermatt bietet sich an diesem Wintersamstag ein gegenteiliges Bild. Bunt bekleidete Skifahrer und Snowboarder bevölkern die wenigen Sitzplätze vor dem in die Jahre gekommenen Bahnhofsrestaurant. Prominent gegenüber liegt der Grund für die neu entfachte Anziehungskraft des Ortes: "The Chedi", ein Hotelkomplex aus vier Gebäuden. Im Chalet-Stil erbaut und hübsch eingerahmt von verschneiten Tannen und meterhohen Schneehaufen, wirkt es trotz seiner Größe gut aufgehoben.
Das 5-Stern-Superior ist das achte seiner Art der in Asien beheimateten Kooperation - und es will das beste der Alpen sein. Ende 2013 eröffnet, ist es Ausgangspunkt für das angekündigte Luxusressort, mit dem das 1500-Seelen-Dorf zum größten Touristenmagnet der Alpen werden soll. Als Retter erschien der ägyptische Investor Samih Sawiris vielen im Land, der mit seiner Idee 2005 erstmals auftrat. Unter dem Dach der eigens gegründeten "Andermatt Swiss Alps" sind im kommenden Jahrzehnt ein Komplex aus Hotels, Appartmenthäu-sern und Chalets geplant, außerdem ein Sportzentrum, Kongresseinrichtungen, sowie ein 18 Loch-Golfplatz. Kostenpunkt: 1,8 Milliarden Franken.
Destination für Reiche
Inzwischen wurden rund 400 Millionen Franken investiert. "Wir wollen die derzeitige Bettenzahl von 2000 auf insgesamt 5000 aufstocken", sagt die freundliche Dame im Sales Center vis-à-vis des Bahnhofs.
Das Ziel ist es, eine Ganzjahresdestination für Reiche zu werden. Doch die haben noch nicht angebissen. Die Golfanlage ist fast fertig. Erst ein Appartementhaus und eine Villa stehen einsam auf der einst militärischen genutzten Fläche hinter dem Bahnhof. Mit 145 Hektar ist sie größer als das Bergdorf selbst. Auch wer hier seinen Erstwohnsitz nimmt, erhält vergünstigte Tarife. "Ein tolles Projekt, aber für mich unerschwinglich", sagt die aus dem benachbarten Altdorf angereiste Dame beim Blick auf das Baumodell. Der reguläre Einstiegspreis pro Quadratmeter liegt bei 8500 Franken. Der Bund erlaubt ausnahmsweise auch Ausländern den Kauf, nachdem man sie ein halbes Jahrhundert vom Gebirgswaffenplatz fernhielt.
Die Bewohner reagieren kontrovers auf die Rettungsinitiative. Das Hotel bringe Arbeit und belebe das Tal, so die Befürworter, die Gegner sprechen von Fremdübernahme, einer kommenden Kluft zwischen reichen Gästen und armen Einwohnern, zweifelhaften Investitionen. Die eidgenössischen Medien verfolgen seismografisch jede Regung seit dem Spatenstich 2009.
In guter Tradition
Dessen ungeachtet ziehen draußen Familienväter die Schlitten mit ihren Kindern, Snowboarder mit geschultertem Brett balancieren auf den schneebedeckten, stellenweise vereisten Bürgersteigen. An der berühmten Gotthard-straße stehen vereinzelt einfache Hotels im Siebziger Jahre Stil. Keine Spur mehr von "Grandhotel" und "Bellevue", die Ende des 19. Jahrhunderts internationale Gäste auf der Durchreise anlockten.
Nach der Brücke über die Reuss, am traditionellen Hotel "Drei Könige", ändert sich das Bild. Der Baubestand reicht bis ins 18. Jahrhundert zurück. Ein typischer Stil ist nicht auszumachen, eine geschlossene Reihe einfacher Holz-Steinbauten säumt die Straße. Ursprüngliches spiegelt auch das Talmuseum mit seiner hübschen Rokokko-Malerei. 1786 als Privatbau errichtet, ist es ein Zeugnis des damaligen Reichtums der Region. Die getäfelte Stube, die sich der Talamann Franz Dominik Nager erbauen ließ, lohnt einen Besuch. Säumerei, Gastgewerbe, und Kristallhandel hielten einst viel Geld im Tal. Italienische Baumeister, im Tausch gegen Bürgerrechte angelockt, trugen Sorge dafür, dass es in barocken Kapellen und Kirchen gut angelegt wurde.
"Wovon man nichts verstand, das hat man sich früher schon von außen geholt", kommentiert der Einheimische Bänz Simmen die Geschichte des Tals wie der ganzen Schweiz. Nur höre man das nicht gern. Simmen schenkt an diesem Sonntagmorgen in seinem "Kiosk61" an der Gotthard-straße mit derselben Leidenschaft Kaffee aus, mit der er auch in die Historie eintaucht. "Die Schweizer haben ein verklärtes Selbstbild wie man am Mythos Gotthard sieht", so Simmen. Das einzigartige Gebirgsmassiv, an dem sich die Pässe nach Nord, Süd, Ost und West kreuzen, hatte schon früh das geistige Bild vom höchsten Berg und dem Mittelpunkt des Kontinents genährt. Für die Zukunft gehe es darum, authentisch zu bleiben, meint Simmen, der außerdem als Touristenführer arbeitet und die kristalline Welt der Gegend kennt.
Auch ein Ausflug vom sommerlich warmen Dorf in die zehn Grad kalte Schöllenen-Schlucht könne eine Gänsehaut zaubern, so eine touristische Idee. Doch dafür brauche es geschultes Personal, allem voran im Flaggschiff, dem Hotel "Chedi". Gerüchte von der Unkenntnis des Conciergen über die Bergwelt vor der Hoteltür schüren das Misstrauen der Bevölkerung. Es seien viele Dilettanten am Werk, weiß auch ein Barkeeper aus erster Hand, abends darauf angesprochen. Wer früher Autos verkauft habe und bei Lidl in leitender Stellung war, solle jetzt ein Touristenressort aufziehen. Mehr will er nicht sagen. Nicht nur Verunsicherung über die Führungsstrategie klingt an, sondern auch die Enttäuschung darüber, dass Einheimische nicht immer zum Zug kommen.
Mit leisem Luxus
Miriam Schuler vom Andermatt-Urserental Tourismus versteht, dass manche enttäuscht sind. Auch weil der geplante Bau des Sportzentrums für die Gemeinde zunächst um weitere fünf Jahre vertagt wurde. Doch immerhin entstanden mit dem Hotel fast 200 neue Stellen. Das Tal sei inmitten eines großen strukturellen Umbruchs, und die Entwicklung brauche Zeit. Man wolle kein St. Moritz, Davos, Ischgl oder Kitzbühel werden, sondern eine Destination für Erholungssuchende bleiben. Die Besiedlungsgrenzen sind klar definiert, auch die Veränderungen am Berg, sagt Schuler beim Gang durch das Dorf. Lediglich drei neue Liftanlagen sollen die veralteten Skigebiete verbinden, erst war Größeres geplant, aber die ökologischen Auflagen lassen das nicht zu. Ein natürliches Face-Lifting steht auch für Rad- und Wanderwege an. Und das Quellgebiet von Rhein, Rhone, Reuss und Ticino bietet außerdem rund 40 Bergseen.
Auch Sven Flory, Sales Manager im "The Chedi" will das Authentische der Umgebung vermitteln. "Rund die Hälfte unserer Angestellten sind Schweizer". Die fehlende Landeskunde erhalten sie via Serviceschulungen. Und die viel beworbene Ruheoase wird ihrem Anspruch gerecht. Kein Hall, kein Geklapper auf dem Steinboden, nur leise Hintergrundmusik - und das in einer Lobby von mehreren hundert Quadratmetern bei viereinhalb Metern Höhe.
In den runden Glaskaminen flackern Holzscheite, ringsum Polstergruppen, einheimische Materialien wie Holz und Stein, warmes Licht. Aufmerksame Diener unterstützen die behagliche Atmosphäre unaufdringlich, diskret, stets freundlich.
Feine Gesellschaft
Königlicher Komfort überrascht auch in der Suite Superior Deluxe, die Nacht kostet 1300 Franken. Via ipad lässt sich vom ausladenden Bett aus so ziemlich alles bedienen: Radio, Fernsehen, der Gaskamin, die Lichter und Jalousien. Nur in der Nacht kämpft der Gast unter der Daunendecke mit der Raumtemperatur von Minimum 19 Grad. An einer Lösung werde gearbeitet, heißt es am andern Morgen in der Rezeption entschuldigend.
Eine erholsame Massage im hauseigenen Spa lässt die nächtliche Strapaze vergessen. Widerstrebend, mit Trockenfrüchten und einem Glas Wasser in der Hand, geht’s zurück in diese Welt. Gegenüber wartet eine Dame aus Köln auf ihre Behandlung, die in den Hotels der oberen Preiskategorie herumgekommen ist, wie sich im Gespräch herausstellt: Auf der Terrasse vom Dolder in Zürich lasse es sich herrlich speisen. Hier auch, aber drumherum werde nichts geboten, verglichen etwa mit Davos.
"Ich hörte im Fernsehen, dass die Einheimischen gegenüber dem Projekt gespalten sind", schaltet sich ihr Gatte ein. "Mehr verdienen als beim Schweinefüttern werden sie doch immerhin", kontert die Kölnerin. Ob sie den Ochsen, die Dorfbeiz mit ihrem dunkler Täfer und den historischen Fotos von einst schätzen würde? Das bezweifelt die Besucherin aus Köln beim Chäsfondue. Angebot und Nachfrage aufeinander abzustimmen bleibt wie so vieles in Andermatt ein Entwicklungsprojekt - aber neuerdings eines mit riesiger Bandbreite.
Manuela Ziegler, geboren 1970, lebt als Journalistin in Konstanz. Sie arbeitet bei der Schweizer Journalistenarbeitsgemeinschaft Pressebüro Seegrund in St. Gallen.