Emmerich Tálos im Interview: Der Sozialstaat muss neu finanziert werden. | "Mindestsicherung wichtig für Jugend." | "Wiener Zeitung": Die Koalitionsverhandlungen scheinen unter einem besseren Stern zu stehen als 2006. Damals verlangte die ÖVP eine Entschuldigung von der SPÖ ehe sie bereit war, Gespräche zu führen. Trügt die Freundlichkeit? | Emmerich Tálos: Das Klima ist besser, weil die ÖVP schon zwei Jahre als Juniorpartner in der Regierung war. Bei all den Streitigkeiten wurde da doch ein anderes Klima geschaffen als in der Zeit vor 2006, als es eine schwarz-blau-orange Regierung gab und die SPÖ in Opposition war.
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Dennoch gibt es einige Parallelen. So bietet SPÖ-Chef Werner Faymann der ÖVP von Anfang an die Hälfte der Ressorts und zeigt sich auch bereit, auf Schlüsselressorts zu verzichten.
Offenkundig wird derselbe Fehler gemacht. Die große Koalition wurde abgewählt, sie ist in der Bevölkerung ungeliebt. Vor diesem Hintergrund müssen SPÖ und ÖVP klar machen, worum es inhaltlich geht. Es müssen Konzepte ausformuliert werden ehe man die Felle der Ressorts verteilt. Die beiden Parteien müssen zeigen, dass sie in der Lage sind, wesentliche Antworten zu geben. Eine große Koalition, die sich nur auf den kleinsten gemeinsamen Nenner verständigt, hat keine Existenzberechtigung. Die Sozialdemokratie hat sich in den Verhandlungen 2006/2007 flachgelegt und nur Peanuts in das Regierungsprogramm hineinreklamiert. Sie musste in der Regierung nachholen, was sie in den Verhandlungen versäumt hat. Das Schielen auf den Kanzlerposten und das Aufgeben sozialdemokratischer Positionen war der Urgrund für das Scheitern der Regierung.
Werden die Verhandlungen jetzt zügig vorangehen?
Es geht nur dann sehr schnell, wenn man eine Reihe anstehender Punkte ausgrenzt und Wesentliches ausspart. Wenn das geschieht, ist vorprogrammiert, dass die FPÖ bei den darauf folgenden Wahlen noch viel stärker wird. Je weniger grundsätzlich die große Koalition ihre Aufgabe angeht, desto größer wird das Protestpotenzial. Ich rate den Verhandlern daher, sich Zeit zu nehmen und sehr konkrete Vorgaben auszuarbeiten.
Sind Ihrer Meinung nach Korrekturen zu früheren Maßnahmen notwendig?
Derzeit wird das Finanzierungsproblem des Sozialsystems so gelöst, dass Leistungen gekürzt werden. Wir brauchen ein völlig neues Finanzierungssystem für die Sozialpolitik. Das derzeitige stammt aus dem ausgehenden 19. Jahrhundert. Wer dieses Finanzierungssystem über Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeiträge nicht korrigiert, trägt zum Untergang unseres Sozialsystems bei. Unternehmen, die Maschinen einsetzen, zahlen weniger als jene, die Menschen nicht ersetzen können. Der erste, der das in Österreich in Frage gestellt hat, war nicht Alfred Dallinger 1985, sondern Engelbert Dollfuß 1933.
Die FPÖ hat bei der Nationalratswahl vor allem bei jungen Wählern reüssiert. Wie erklären Sie sich das?
Die frühere Regierung hat vor allem für die Pensionisten viel getan - noch einige Tage vor der Wahl wurde die Hacklerregelung verlängert. Die Jungen sind auf der Strecke geblieben. Die bedarfsorientierte Mindestsicherung, über die im Bund Einigkeit herrschte, ist im Sommer an Landeshauptmann Jörg Haider gescheitert. Die Mindestsicherung ist nicht nur ein wichtiges Instrument zur Armutsbekämpfung. Für Jugendliche ist nicht wichtig zu wissen, welche Pension sie einmal haben werden, sondern dass sie eine Absicherung haben, wenn sie keinen Job bekommen.
Was sind die Stolpersteine bei den Verhandlungen?
Einerseits die Finanzierung inklusive Steuerreform aber auch die Staatsreform.
"Eine große Koalition, die sich nur auf den kleinsten gemeinsamen Nenner verständigt, hat keine Existenzberechtigung."
Emmerich Tálos ist seit 1983 Professor am Institut für Politikwissenschaft der Uni Wien. Einer seiner Schwerpunkte ist Sozialpolitik.