Antonio Ernesto lebt in Mosambik, einem der ärmsten Länder der Welt. Wie er erblinden Tausende aufgrund von Armut und schwerer Mangelernährung an Grauem Star. Nun wurde ihm geholfen.
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Beira. Der schwarze Rauch kam am frühen Morgen. Antonio Ernesto erinnert sich noch gut. Er stand auf, ging vor seine Lehmhütte und wusch sich, so wie an jedem anderen Tag. Doch diesmal war etwas anders. Er blickte zu seiner Frau, aber ihr Gesicht sah er auf dem rechten Auge nur noch verschwommen. Die Bäume und Kokospalmen vor seiner Hütte konnte er ebenfalls nicht mehr erkennen. Was er wahrnahm, war wie schwarzer Rauch. Verzweifelt bat er seine Frau, ihm zu helfen. Sie tröpfelte ihm Muttermilch auf die Augen. Erst das rechte Auge, dann das Linke. Die Menschen in den ländlichen Regionen Mosambiks schreiben der Säuglingsnahrung heilende Kräfte zu. Drei Wochen lang behandelte er das Auge mit der Milch aus ihrer Brust, doch es half nichts. Nach sechs Monaten stieg der schwarze Rauch auch in sein linkes Auge.
Ernesto lebt in einem der ärmsten Länder der Welt. In Mosambik. Auf dem Human Development Index der Vereinten Nationen liegt das Land auf Platz 181 von 188. In den Indikator fließt etwa ein, ob die Menschen ein langes, gesundes und annehmbares Leben haben – im Land liegt die Lebenserwartung bei 55,5 Jahren. Laut World Food Programme ist jeder vierte Mosambikaner unterernährt. In vielen Regionen des südafrikanischen Landes ist sauberes Wasser knapp. Schwere Mangelernährung löst Krankheiten und körperliche Behinderungen aus. In Mosambik herrscht zudem ein eklatanter Mangel an Augenärzten. Lediglich 27 Augenärzte gibt es im ganzen Land, auf einen Arzt kommen eine Million Menschen. Zum Vergleich: Im zehnmal kleineren Österreich gibt es 1000. Das Verhältnis liegt bei 1 zu 8700.
Der schwarze Rauch in Ernestos Augen heißt Grauer Star, auch Katarakt genannt. Bei der Krankheit trübt sich die Augenlinse. Die Sehschärfe nimmt dabei stetig ab. Die Patienten sehen nur noch Nebel. Schlussendlich erblinden sie. Ein simpler Eingriff könnte sie jedoch heilen. Die getrübte Linse wird durch ein künstliches Implantat ersetzt. In Österreich ist der Eingriff seit Langem Routine, in Mosambik wissen die Menschen oft gar nicht, unter welcher Krankheit ihre Augen leiden. "Ich dachte mir, verdammt, was ist jetzt mit mir los? Ich bin verflucht", sagt Ernesto. Die Chancen für ihn, je wieder sehen zu können, sind statistisch gesehen gering. Seit einem Jahr ist er nun schon blind.
In verschlissenen Jeans und einem knallgelben Trikot der brasilianischen Fußballnationalmannschaft sitzt Ernesto auf einem leeren Kanister im Schatten vor seiner Lehmhütte, deren Eingang nur durch eine zerrissene Plane verdeckt wird. Es riecht nach Rauch einer Kochstelle. Die Sonne brennt auf den trockenen Boden, es herrschen weit über 30 Grad. Ernestos Hütte liegt in einem Dorf rund 50 Kilometer von Beira entfernt, der zweitgrößten Stadt Mosambiks. Die Menschen leben hier in einfachsten Verhältnissen, der Anbau von Mais, Weizen oder Reis sichert ihnen das geringe Einkommen. Die, die mehr Glück haben, finden einen Job in der nahe gelegenen Zuckerfabrik oder sind Fischer.
Als Ernesto noch als Erntehelfer auf Mais- und Weizenfeldern arbeiten konnte, verdiente er rund 4000 Meticais, umgerechnet 55 Euro im Monat. Es reichte gerade mal von der Hand in den Mund. Doch mit dem Augenlicht verschwand auch das Einkommen. Seit er blind ist, sitzt er hilflos zu Hause. Dabei hätte er vier Kinder zu ernähren, ein Mädchen und drei Jungen. Der Jüngste kam erst im Juni zur Welt – gesehen hat er ihn noch nicht. Er weiß nur, dass es ein Junge ist. "Ich bin so gespannt darauf, das Gesicht von meinem Sohn endlich zu sehen", sagt er. Für das Einkommen sorgt nun seine Frau: Sie geht Feuerholz sammeln, um es zu verkaufen. Ernesto schämt sich, als Mann nicht für seine Familie sorgen zu können. Als wäre seine Situation nicht ohnehin prekär genug, ist auch noch das Dach seiner Hütte kaputt. Er muss es dringend reparieren, denn im November beginnt die Regenzeit. Doch Ernesto ist zum Nichtstun verdammt.
Laut der Weltgesundheitsorganisation sind in Mosambik rund 215.000 Menschen blind. Katarakt ist dafür Hauptursache. Studien zufolge deckt die medizinische Versorgung bei Augenleiden nur einen geringen Teil der Bevölkerung ab. In der Provinz Sofala – wo auch Ernesto lebt – hat nur ein Drittel der Menschen mit Grauem Star Zugang zur Behandlung. Armut ist eine große Hürde. Die Fahrt mit dem Bus von Mutua ins nächste Krankenhaus nach Beira kostet rund 50 Meticais (80 Cent). Das können sich viele nicht leisten – dabei kostet die Operation nur einen symbolischen Metical, also weniger als einen Euro-Cent.
Manche haben zwar genug Geld für die Fahrt in die Stadt, doch Aberglaube und Schauergeschichten schüren die Angst vor der Operation. "Die Dorfbewohner erzählen sich, dass einem im Spital das Auge herausgenommen wird", sagt Leovigildo Pechem, Mitarbeiter der NGO "Licht für die Welt". Auch Ernesto glaubte zunächst die Gruselgeschichten. "Sie haben mir gesagt, dass sie mein Auge entfernen und durch ein Rinderauge ersetzen." Gerüchte wie diese kursieren viele in den Dörfern. Doch nicht nur das ist ein Problem. Am Land praktizieren noch zahlreiche Wunderheiler. Diese suchen die Menschen zuerst auf, wenn sie krank werden. Die "Medizin", die sie den Menschen verabreichen, verschlimmert die Krankheit oft sogar noch. "Die Wunderheiler sagen den Menschen, dass sie verhext wurden und nur sie sie heilen könnten", erzählt Pechem. Er spricht Sena, eine indigene Sprache. Darum fällt es ihm leicht, das Vertrauen der Menschen zu gewinnen. Auch das von Ernesto.
Die NGO begleitet Ernesto zum Gesundheitszentrum nach Mutua. Denn dort findet heute ein "Screening" statt, eine kostenlose Untersuchung der Augen. Die lokalen Gesundheitsbehörden laden regelmäßig dazu ein, um die Menschen über die häufigsten Augenkrankheiten aufzuklären. "Wir senden die Termine der Screenings auch im Radio, um möglichst viele Menschen zu erreichen", sagt Augenkrankenpfleger Manuel Chioeo. Ob jemand an Grauem Star erkrankt ist, können Chioeo und seine Mitarbeiter mit einer Taschenlampe und einer Lupe schnell feststellen. Danach ist einmal mehr Sensibilität gefragt: "Wir sprechen in ihrer Anwesenheit nicht von Augen-Operationen. Sondern wir sagen ihnen, dass wir ihnen die Augen und das Gesicht waschen", sagt Chioeo.
Dass er mit seinem mobilen Team in die Dörfer reisen kann, hat zu einem großen Teil auch die österreichische NGO "Licht für die Welt" ermöglicht. Die Hilfsorganisation engagiert sich seit 2003 in Mosambik und bildet etwa Augenkrankenpfleger wie ihn aus, um erste Untersuchungen durchzuführen. Daneben unterstützen sie auch die Ausbildung von Augenärzten, die so dringend gebraucht werden. Da dies in Mosambik noch nicht vollständig möglich ist, werden derzeit sechs Ärzte in Kenia und Tansania ausgebildet. Möglich ist dies nur mit Spendengeldern: 2016 wurden rund 1,5 Millionen Euro an Spenden eingesammelt. Damit werden unter anderem Hilfsprojekte zur Inklusion von Menschen mit Behinderung finanziert.
Antonio Ernesto sitzt inzwischen schon auf der Rückbank eines Jeeps, der ihn nach Beira bringt. Noch am Abend soll er operiert werden.
Über eine staubige, mit Schlaglöchern übersäte Piste schaukelt der Geländewagen Richtung Süden. Erst ein Teil der Straße ist fertiggebaut, sie ist eine der wichtigsten Verkehrsadern Mosambiks: Lastwagen bringen Waren von Tansania, Zimbabwe und Sambia nach Beira zum Hafen. Auf der Gegenfahrbahn bearbeiten Männer mit einfachen Harken, Rechen und Spitzhacken die sandige Piste. Dutzende Kinder und Frauen sammeln alte Asphaltstücke vom Straßenrand ein – es dient als kostenloses Baumaterial für ihre Hütten. Immer wieder fahren klapprige Fahrräder vorbei, zwei Meter lange Säcke mit Kohle auf dem Gepäckträger balancierend. Die Nachwehen der Kolonialherrschaft Portugals – Mosambik wurde 1975 unabhängig – und des 16-jährigen Bürgerkriegs zwischen der vom Ostblock unterstütztem Frelimo und der vom Westen gestützten Renamo sind immer noch zu spüren. Auswanderung, wirtschaftliche Abhängigkeit von Südafrika und Dürren bremsten lange die Entwicklung des Landes. Erst im Dezember 2016 wurde der jüngste Waffenstillstand zwischen den verfeindeten Gruppen ausverhandelt – bis auf wenige Ausnahmen hält er.
Ankunft in Beira. NGO-Mitarbeiter Pechem hilft Ernesto aus dem Wagen. Er sieht mager aus in den viel zu großen Jeans. Er schlurft mehr durch den Eingang des stark in die Jahre gekommenen Spitals als dass er geht. Doch von Aufregung: Keine Spur. Ernesto wirkt ruhig. Bevor er jedoch operiert wird, werden noch mal seine Augen untersucht. Der Arzt muss wissen, welche Stärke seine Kunstlinse braucht. Danach muss Ernesto warten. Er sitzt verloren auf einem Sessel, die nackten Füße auf dem abgetretenen Linoleumboden. Das Neonlicht flackert an der hellblauen Wand. Auf seiner Stirn kleben zwei weiße Pflaster – der Hinweis, dass er auf beiden Augen operiert werden muss. Eine Krankenschwester holt Ernesto schließlich ab und führt ihn in den Operationssaal. Seine Augen betäubt sie mit einer Spritze, anschließend werden ihm zwei Tennisbälle aufgeschnallt. Das ist wichtig, um den Augendruck zu senken. Not macht erfinderisch.
Der Mann, der Antonio Ernesto das Augenlicht zurückgibt, heißt Abel Polaze. Der schlanke, hochgewachsene 48-Jährige hat in Kuba Medizin studiert und in Barcelona gearbeitet, bevor er zurück nach Mosambik kam. Heute leitet er die Augenklinik in Beira. Er ist einer der wenigen Augenärzte im Land. Zwei Mal pro Woche operiert Polaze, an diesem Tag hatte er bereits sieben Patienten. Morgen stehen 13 auf seiner Liste. Er wirkt erschöpft, aber konzentriert. Im Operationssaal sieben blickt er durch ein Mikroskop auf das linke Auge von Ernesto. Vorsichtig schneidet er mit dem Skalpell eine kleine Öffnung in den Linsensack. Danach tauscht er die getrübte Linse durch die Kunstlinse aus. Die ganze Operation dauert rund 35 Minuten. Mit zwei Augenbinden verlässt Antonio Ernesto den OP-Saal.
Der nächste Morgen im Krankenhaus. Am Gang riecht es nach gekochtem Essen und Putzmittel. Ernesto sitzt auf einer fleckigen Matratze auf einem simplen Bettgestell. Seine Arme liegen auf seinem Schoß, er sieht hilflos aus. Noch kann er nichts sehen. Kissen oder Decke hatte er keine in der Nacht. Geschlafen habe er gut, sagt er, die Schmerzen hielten sich in Grenzen. Der Moment ist endlich gekommen: Dr. Polaze zieht ihm behutsam die Augenbinden ab. Noch hat Ernesto die Augen geschlossen. Dann blinzelt er zaghaft. "Wunderbar", sagt Polaze über das Ergebnis der Operation. Ernestos Lippen formen sich zu einem Lachen, er hat Tränen in den Augen. Zum ersten Mal seit einem Jahr sieht er wieder. Der erste Test: "Welche Farbe hat mein T-Shirt", fragt ihn NGO-Mitarbeiter Pechem. "Die Farbe des Eigelbes", antwortet Ernesto. Das ganze Krankenzimmer lacht. "Ich fühle mich sehr gut und freue mich, mein Baby zu sehen", sagt Ernesto, sichtlich erleichtert.
Katarakt-Operationen wie die von Ernesto wurden heuer bereits mehr als 900 durchgeführt. Künftig sollen es noch mehr werden. Gleich neben dem Krankenhaus entsteht auf der Fläche von 950 Quadratmetern eine neue Augenklinik, die mit Spendengeldern von 1,5 Millionen Euro aus Österreich finanziert wurde. Die laufenden Kosten übernimmt die Regierung von Mosambik. Im Frühjahr soll das Krankenhaus mit 32 Betten eröffnet werden. "Die Klinik wird eine große Lücke schließen", sagt Dr. Polaze. Denn bisher musste sich die Augenklinik den Operationssaal mit allen anderen Abteilungen teilen. Häufig war er belegt. Bald steht ein OP-Saal nur für Augenoperationen zur Verfügung. In der neuen Klinik, die eine der größten und modernsten in Mosambik wird, sollen mindestens drei Augenärzte und zehn Augenkrankenpfleger arbeiten.
Zurück in Mutua. Im Dorf herrscht Aufruhr, dutzende Kinder laufen herum. Antonio Ernesto kann nun ohne Hilfe aus dem Auto aussteigen und alleine zu seiner Hütte gehen. Er kann die Bäume und Kokospalmen wieder sehen. Seine Frau umarmt ihn. "Ich fühle mich wie neugeboren", sagt Ernesto und lächelt über das ganze Gesicht. Zum ersten Mal schaut er seinem Sohn in die Augen. Eine Woche lang muss er noch Augentropfen nehmen und zu einer letzten Untersuchung in das Gesundheitszentrum nach Mutua. Staub, direktes Sonnenlicht und schwere Arbeit soll er bis dahin vermeiden. An den Tag im Spital in Beira wird sich Ernesto noch lange erinnern. Es war der Morgen, an dem der schwarze Rauch verschwand.
Die Reise fand im September auf Einladung von Licht für die Welt Österreich statt.
Grauer Star:
In Mosambik ist der Graue Star die häufigste Ursache dafür, dass Menschen erblinden. Doch viele haben keinen Zugang zu Informationen, geschweige denn die Möglichkeit, sich einer Operation zu unterziehen. "Licht für die Welt" ermöglicht eine Operation mit einer Spende von 30 Euro. 2016 konnten insgesamt 1426 Katarakt-OP’s durchgeführt werden, im ersten Halbjahr 2017 waren es bereits 945. In Österreich ist die OP ein Routineeingriff, der von der Krankenkasse gezahlt wird. "In Europa erblindet man an Grauem Star nicht mehr", sagt Dr. Michael Amon, Vorstand der Augenabteilung des Krankenhauses der Barmherzigen Brüder. Jedes Jahr werden in Österreich 97.000 Katarakt-Operationen durchgeführt, rund 60.000 Menschen sind hierzulande von Grauem Star betroffen. Hauptursache ist der Altersstar: 50 Prozent der Patienten sind über 75 Jahre alt, 40 Prozent zwischen 60 und 74.