Partizipation hat in Vorarlberg Tradition und wird noch ausgeweitet.
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Bregenz/Wien. Ja, im Ländle, da kennt jeder jeden, da ist das sowieso kein Problem. Ja, im Ländle, da ticken die Uhren eben anders. Aussagen wie diese bekommt zu hören, wer sich von Wien aus ein wenig mit der politischen Realverfassung auf der anderen Seite des Arlbergs auseinandersetzt. Doch der Blick in Österreichs mit gerade einmal 372.000 Einwohnern zweitkleinstes Bundesland lohnt sich.
Denn während vergangene Woche das Demokratievolksbegehren grandios gescheitert ist und sich dem Vernehmen nach wohl kaum eine Oppositionspartei dazu durchringen kann, das abgespeckte Demokratiepaket der Koalition durch den Verfassungsausschuss am 6. Mai zu tragen, wird in Vorarlberg die direkte Demokratie immer weiter ausgebaut.
Am Anfang stand ein Problem, wie es den Bundespolitikern zu gut bekannt ist: "Im Zuge der Korruptions- und Spekulationsskandale herrschte eine regelrechte Politikerverdrossenheit vor", erklärt Landtagspräsidentin Gabriele Nußbaumer (ÖVP). Daher wurde 2012 eine Arbeitsgruppe zur Landtags- und Demokratiereform eingerichtet, die im März ihre Ergebnisse präsentierte.
Und die lesen sich wie die Wunschliste der Verfechter der direkten Demokratie. Etwa sollen statt der Eintragung am Gemeindeamt Unterstützungsunterschriften für Volksbegehren auf der Straße gesammelt werden können, einzig am Schluss soll das Gemeindeamt noch bestätigen, dass die Personen tatsächlich im Wählerregister eingetragen sind. Initiatoren von Volksbegehren bekommen ein Rederecht im Landtag. Zudem hat man sich auf eine Stärkung des Persönlichkeitswahlrechts über eine Aufwertung der Vorzugsstimmen geeinigt: Deren Wert wird verdoppelt, jener der Listenpunkte halbiert, insgesamt erhalten sie viermal mehr Gewicht als bisher. Und schließlich soll jede Partei ungeachtet ihrer Größe einmal pro Landtagsperiode eine Untersuchungskommission einberufen können. In Vorarlberg wird der U-Ausschuss also ein Minderheitsrecht, während im Bund der jahrelange Streit darüber kein Ende nimmt.
Das Verblüffende: Alle vier im Landtag vertretenen Parteien - ÖVP, FPÖ, Grüne und SPÖ - haben die Demokratiereform unterschrieben. Und das, obwohl die absolut regierende Volkspartei unter Landeshauptmann Markus Wallner (sie verfügt über 20 von 36 Mandaten) nicht einmal eine Oppositionspartei dazu benötigt hätte. Einzig die SPÖ - im Landtag die mit drei Mandaten kleinste Fraktion - hätte gerne weiterverhandelt, hat aber dennoch ihr Placet gegeben. Bis Herbst wird an der Legistik gefeilt, Ziel ist eine Umsetzung bis Jahresende.
Direkte Demokratie inder Verfassung verankert
Bereits umgesetzt ist eine Änderung der Landesverfassung: Als europaweit einzige Gebietskörperschaft hat das Land im Jänner einstimmig die direkte Demokratie in der Verfassung verankert: "Das Land bekennt sich zur direkten Demokratie in Form von Volksbegehren, Volksabstimmungen und Volksbefragungen und fördert auch andere Formen der partizipativen Demokratie" heißt es.
Mit "anderen Formen" sind die Bürgerräte gemeint. Ein Instrument, das seit den 1990er Jahren "die Kluft zwischen dem politischen System und der Bevölkerung überwinden" soll, wie Manfred Hellrigl, Leiter des Büros für Zukunftsfragen des Landes, erläutert. Die Bürgerräte folgen einem Konzept aus den USA und werden auf kommunaler und regionaler Ebene eingesetzt. Nach dem Zufallsprinzip wie bei der Geschworenenauswahl werden 12 bis 16 Personen ausgesucht, die eineinhalb Tage lang gemeinsam über einem Thema brüten. Mit der Zufallsauswahl wird sichergestellt, dass nicht die immer gleichen Lobbyisten mitbestimmen und dass alle Schichten der Bevölkerung repräsentiert sind.
Entweder geht es dabei um ein bestimmtes Problem, das gelöst werden soll, oder aber die Bürger können freie Anliegen an die Politik äußern. Die Debatte ist ergebnisoffen, sie wird moderiert und verläuft nach dem Prinzip der gewaltfreien Kommunikation - jeder kommt zu Wort, die Meinung eines jeden wird wertgeschätzt. Am Schluss stehen einstimmig beschlossene Empfehlungen an die Politik. Was utopisch klingt, hat bis jetzt noch immer funktioniert, sagt Hellrigl. Weil sich die Politik nur ungern von den Bürgern in die Suppe spucken lässt, wurden bei den bisher rund 30 in Vorarlberg abgehaltenen Bürgerräten oft parallel Experten befragt - die Bürger seien meist zu den gleichen Ergebnissen gekommen, diese seien aber lebensnaher und einfacher umzusetzen gewesen.
Wichtig sei, dass die Empfehlungen von der Politik nicht ignoriert werden - dazu gibt es das Bürgercafé und eine Resonanzgruppe, bei denen mehr Bürger, Lobbyisten und Politikern zu den Beratungen beigezogen werden. Schließlich landen die Ergebnisse aus allen Gremien bei der zuständigen politischen Instanz. Mittlerweile wurden vier solcher Bürgerräte auf Landesebene abgehalten, in einer Richtlinie hat die Regierung festgelegt, wie mit den Ergebnissen zu verfahren ist. 1000 Bürger können mit ihrer Unterschrift einen Bürgerrat initiieren.
"Brauchen keine Gesetze, sondern gute Fragen"
Um eine Volksgesetzgebung handelt es sich allerdings nicht: "Was wir heute brauchen, sind nicht neue Gesetze, wir brauchen nicht einmal Antworten, sondern wir brauchen gute Fragen", sagt Hellrigl. "Die politische Kultur braucht dringend solche neuen Verfahren, denn das Niveau ist unter jeder Kritik", ergänzt er. Was den Bund betrifft, so hat er keine Illusionen: Die Politiker hätten dort zu viel Angst, durch die partizipative Demokratie ersetzt zu werden, obwohl dies gar nicht deren Ziel sei.
Aber im Ländle ticken die Uhren eben anders.