Ein Viertel aller Wiener im wahlfähigen Alter ist von der Wien-Wahl ausgeschlossen.
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Wien wählt. Doch wird das Ergebnis der diesjährigen Gemeinderatswahl wirklich den politischen Willen der Wiener widerspiegeln? Dies ist zu bezweifeln, denn in der Bundeshauptstadt herrscht ein großes demokratiepolitisches Defizit: 25 Prozent aller Wienerinnen und Wiener im wahlfähigen Alter dürfen heuer kein Kreuzerl machen. So viele wie noch nie. Trotz Bevölkerungsexplosion ist die Zahl der Wahlberechtigten gegenwärtig sogar niedriger als Anfang der 1980er Jahre. Dabei darf man heute - im Unterschied zu damals - bereits ab 16 Jahren wählen.
"Rund 385.000 Wiener sind bei der diesjährigen Wien-Wahl ausgeschlossen", sagt Ramon Bauer vom Institut für Demografie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. "Dies erklärt sich vor allem durch internationale Migration." Seit den 1990er-Jahren wuchs Wien hauptsächlich durch Zuwanderung. Einem Großteil der neuen Bürger ist es jedoch nicht möglich, politisch mitzuentscheiden - denn ohne Staatsbürgerschaft kann in Österreich auf Landesebene nicht gewählt werden.
1971 durften nur vier Prozent aller Wiener nicht wählen
Bauer hat die Entwicklung der Wiener Wählerschaft im Verhältnis zur Bevölkerung seit 2002 analysiert. In diesem Zeitraum wuchs Wien um 14,4 Prozent, während die Zahl der Wahlberechtigten um lediglich 4,5 Prozent anstieg. "Betrachtet man die Entwicklung auf Bezirksebene, so fällt zunächst auf, dass die Schere zwischen Wahlberechtigten und Ausgegrenzten in allen 23 Wiener Gemeindebezirken weiter auseinanderging", sagt Bauer.
Der Bezirk Rudolfsheim-Fünfhaus ist am stärksten betroffen. Prozentuell sind hier die meisten Menschen von der politischen Mitsprache auf Landesebene ausgeschlossen - nämlich 40 Prozent. Auch in der Brigittenau, in Margareten, Ottakring, Leopoldstadt, Hernals und Favoriten beträgt die Rate der nicht Wahlberechtigten mehr als 30 Prozent.
In den reicheren Randbezirken Hietzing und Döbling ist die Kluft wesentlich kleiner. Hier war die Zuwanderung bedeutend geringer und so dürfen rund 80 Prozent der Einwohner wählen. Immer noch recht wenig, wenn man bedenkt, dass 1971 nur 4 Prozent aller Wiener kein Wahlrecht besaßen. Die wenigsten Menschen werden in Liesing - mit knapp 15 Prozent - ausgeschlossen.
Mehr Einwohner, weniger Wähler
Michael O. wohnt im urbanen Mariahilf. Er ist seit neun Jahren Wiener, hat hier studiert, arbeitet hier, zahlt hier Steuern. Als deutscher Staatbürger darf er hier aber nicht wählen. Lediglich auf Bezirksebene könnte er abstimmen. "Ich würde wohl den Grünen meine Stimme geben", sagt er. "Ich finde es fragwürdig, dass ich kein Recht habe mitzubestimmen. Wenn man schon so lange hier lebt, sollte man auch die politische Landschaft mitgestalten dürfen." So wie ihm geht es 7252 weiteren Mariahilfern. Der relativ kleine Bezirk liegt in etwa im Durchschnitt, also bei 25 Prozent nicht Wahlberechtigter - einem Viertel aller Wiener.
"Vergleicht man die Einwohnerzahl der Bezirke mit deren Wählerschaft, fallen vor allem die großen Flächenbezirke ins Auge", erklärt Bauer. Favoriten ist im vergangenen Jahrzehnt massiv gewachsen. Die Einwohnerzahl ist um 24,2 Prozent - die der Wählerschaft jedoch lediglich um 4,9 Prozent gestiegen. Im Simmering zeigt sich ein ähnliches Bild. Diese traditionellen Arbeiterbezirke und nunmehrigen Hochburgen der FPÖ weisen den größten Unterschied zwischen Zuwachs und Wahlberechtigten auf.
Auch Martyna lebt in Simmering. Die Polin kam vor 15 Jahren nach Wien. "Ich bin ein Teil der Gesellschaft. Ich habe eine feste Anstellung und fast ausschließlich österreichische Freunde, trotzdem darf ich nicht abstimmen", sagt sie. Könnte sie, bekäme ihre Stimme die SPÖ.
In der Altersgruppe der 30- bis 44-Jährigen gibt es die wenigsten Wahlberechtigten
Insgesamt ist die Zahl der Wahlberechtigten in zehn Bezirken rückläufig. Am stärksten in der Inneren Stadt, wo sie um 13,2 Prozent fiel. Allerdings ist der 1.Bezirk auch der einzige, dessen Bevölkerungszahl ebenso abnahm - wenn auch nur um 7,3 Prozent. Anders verhält es sich in Wieden. Dieser Bezirk hat heute um vier Prozent weniger Wahlberechtigte als 2002, jedoch um 9,4 Prozent mehr Einwohner.
Besonders auffällig ist das sinkende Mitspracherecht der 30- bis 44- Jährigen. In dieser Altersgruppe gibt es die wenigsten Wahlberechtigten. Die Entwicklung ist eindeutig: Viele Jungfamilien verlegen ihren Lebensmittelpunkt hinter die Gemeindegrenze ins Wiener Umland. Dieser Verlust wird durch internationale Zuwanderer wieder ausgeglichen. Die meisten der Zuwanderer sind zwischen 30 und 44 Jahre alt. So können rund ein Drittel der jungen Wiener Erwachsenen politisch nicht mitbestimmen. Im Bezirk Rudolfsheim-Fünfhaus ist es sogar die Hälfte. Und das in einem Alter, in dem man mitten im Leben steht, sich partizipiert, arbeitet, Kinder bekommt, Steuern zahlt. Kurz, am meisten für die Gesellschaft leistet.
Steiniger Weg zur Staatbürgerschaft
Im Gegensatz dazu hat die Gruppe der über 60-Jährigen überproportional viel Mitspracherecht. Sie darf zu 90 Prozent wählen, weil sich unter ihnen die wenigsten Zuwanderer befinden. Und wenn, sind sie oft schon eingebürgert. Denn der Weg zur Staatsbürgerschaft ist hierzulande steinig. Sie kann frühestens nach zehnjährigem ununterbrochenem Aufenthalt bewilligt werden - selbstverständlich nur unter Erfüllung strenger Voraussetzungen und Auflagen. Österreich zählt zu den restriktivsten Staaten innerhalb der EU, zumindest was das Wahlrecht betrifft. Anders als in Großbritannien, Portugal oder Irland, wo Drittstaatenangehörige bestimmter Nationalität sogar auf nationaler Ebene Mitspracherecht zugesprochen wird.
Wie repräsentativ die heurige Wien-Wahl werden könnte, soll folgendes Beispiel zeigen. Bei der vergangenen Wien-Wahl im Jahr 2010 gaben nur 68 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme ab. Wäre dies heuer wieder der Fall, dann würden weit weniger als 50 Prozent der Wiener Bevölkerung politisch mitbestimmen.
Ramon Bauer ist Universitätsassistent am Institut für Geographie (Universität Wien) und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Vienna Institute of Demography (Wittgenstein Centre for Demography and Global Human Capital). Zu seinen Forschungsinteressen zählen urbane Diversität, Migration, räumliche Demographie und Datenvisualisierungen.