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Wiener Antisemitentag 1921: Schweigen, Beifall und Abscheu

Von Wolfgang Duchkowitsch

Wissen
Aus dem (kleinen) Pressespiegel rund um den Antisemitentag 1921.
© Faksimiles: ONB / WZ Collage

Im Rahmen der Ereignisse im März 1921 kam es zu heftigen Ausschreitungen. Diese wurden von der Presse ignoriert oder bagatellisiert - mit wenigen Ausnahmen.


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Der Antisemitentag begann am 11. März, fast auf den Tag genau 500 Jahre nach der Verbrennung von 200 Männern und Frauen der jüdischen Oberschicht auf der Gänseweide in Erdberg (heute: 3. Wiener Gemeindebezirk). Der Vorwurf lautete Hostienschändung. Am 13. März endete der Antisemitentag mit einer Demonstration von etwa 6.000 bis 8.000 Teilnehmern entlang der Ringstraße unter dem schrillen Ruf "Juden hinaus!".

Judenhetze war im erzkatholischen Österreich nach dem Ersten Weltkrieg tief verankert. Sie ging elementar auf Sebastian Brunner zurück, den "großen geistlichen Anführer des Antisemitismus", so der Kulturphilosoph Friedrich Heer. Brunner baute die "Wiener Kirchenzeitung" zur Pflanzstätte des Antisemitismus aus. 1860 bestätigte ein Gericht den Vorwurf eines jüdischen Journalisten, er erküre Judenhetze zum literarischen Industriezweig, er bereite aus Menschenknochen fabrikmäßig Asche. Brunner trat zurück und überließ dem Prälaten Albert Wiesinger die Leitung der "Wiener Kirchenzeitung".

Wiesinger beteuerte stolz, der Kampf gegen das Judentum gehe weiter. Mit seiner journalistischen Arbeit schuf er einen fruchtbaren Nährboden für den deutschnational geprägten Antisemitismus. Nach ihm betrat der Pfarrer Joseph Deckert die Arena bewährter Judenhetze. Wegen Attacken in Tradition des Ritualmordvorwurfs wurde er mehrfach angeklagt und zu Geldstrafen verurteilt.

Vernetzung

Eine Filiale des Antisemitismus verkörperte Ernst Vergani, tätig als Bauingenieur, Mitglied des Nationalen Vereins in Krems. Er plante die Abhaltung eines Antisemitentags in Wien, der 1880 am Feiertag zu Ehren Mariä Empfängnis stattfinden sollte. Dazu lud er Redner aus Deutschland, Frankreich und Ungarn ein. Aus internen Gründen blieben die französischen und ungarischen Referenten fern. Kurzerhand disponierte Vergani um. Er richtete die Veranstaltung als "Antisemitenfest" in einem Gasthaus aus und ließ später verlauten, es werde 1882 ein internationaler Antisemitentag in Budapest stattfinden. Bei dieser Ankündigung blieb es, doch der Gedanke lebte fort.

Ein anderer Anstifter des Antisemitismus, dessen Wirkungskraft aggressiver Agitation von Karl Lueger entströmte, trat nach dem Ersten Weltkrieg in Aktion: Leopold Kunschak, beseelt von exzessiver Verachtung der "jüdisch-liberalen" Presse. Er, Abgeordneter zum Nationalrat, publizierte 1919 die Idee, die Ostjuden (Flüchtlinge aus Galizien) in einem Konzentrationslager zu internieren.

Anton Jerzabek, Gründer des Vereins "Antisemitenbund".
© Bildarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek

Im selben Jahr gründete Anton Jerzabek, Oberstadtarzt in Wien, Mitglied der akademischen Burschenschaft "Olympia", Vertreter des rechten Flügels innerhalb der Christlich-sozialen Partei, den Verein "Antisemitenbund". Diesen vernetzte er mit dem Berliner "Verband gegen die Überhebung des Judentums" sowie mit dem Budapester Verein "Erwachendes Ungarn". Den geeigneten Verbündeten für einen Antisemitentag fand er in Walter Riehl, Strafverteidiger, zum Vorsitzenden der "Deutschen nationalsozialistischen Arbeiterpartei" (DNSAP) gewählt, mit dem Sitz in Wien. Beide kamen überein, den Antisemitentag im März 1921 abhalten zu lassen. Bestritten von Referenten aus dem Lager des "Erwachenden Ungarn" und des "Verbandes gegen die Überhebung des Judentums", ferner aus dem Block Mensur schlagender Studenten nebst anderen Fanatikern im "Frontkämpferverein".

Die Tagung eröffnete Jerzabek unter der Devise: "Nur der Kräfte lähmenden Zersetzung, die das deutsche Volk durch das Judengift erfahren hat, verdankt die Entente den Sieg." Nun gehe es um die "Erlösung unseres Volks aus der ihm vom Judentum aufgezwungenen Knechtschaft". Mitveranstalter waren christlich-deutsche Vereine. Sie versahen ihre Einladung mit einem Aufruf an das "nichtjüdische" Wien. In diesem gellte an der Spitze: "Schließt Euch zusammen, die ihr noch den Kampf aufzunehmen wagt, den das Judentum heute heftiger und frecher denn je führt." Der Aufruf dekretierte: "Seht in die Theater und Kunsthallen, in die öffentlichen moralischen Bildungsstätten des bodenständigen Volks, wo Unmoral und Unzucht ihre Orgien feiern." Mihaly Kmosko, Universitätsprofessor in Budapest, erzählte, was Juden schon seit Jahrhunderten unternommen hätten, um die Weltherrschaft zu erreichen. Er schloss mit der Bitte: "Gott gebe uns Kraft im Kampf gegen das Judentum!"

Der zweite Tag begann mit einer Trauerkundgebung für den 1901 verstorbenen Pfarrer Josef Deckert. Das Tagesthema galt Fragen der Kultur. Anton Orel, Gründer des "Verbandes der christlichen Jugend Österreichs", griff es vorrangig auf. Einstimmig beschlossen wurde, die Regierung aufzufordern, alle seit 1914 eingewanderte Ostjuden bis 1. April 1921 auszuweisen.

Zerschlagene Scheiben

Den Vorträgen am Vormittag des 13. März folgten Ansprachen am Nachmittag in der Volkshalle des Neuen Rathauses sowie auf dem Rathausplatz, auf dem sich neben schlagenden Burschenschaftern, Gymnasiasten und Lehrlingen tausende Personen eingefunden hatten. Vertreten waren der Antisemitenbund, der Zentralverband der christlich-deutschen Jungmannschaften und der Nationalverband deutschösterreichischer Offiziere sowie der Frontkämpferverein und die DNSAP. Um 17.00 Uhr setzte sich die Versammlung in Bewegung, voran eine Musikkapelle, dahinter Frontkämpfer.

Vor dem Burgtheater stellte sich dem Demonstrationszug eine Schar von Kommunisten entgegen, die "Internationale" singend. Es kam zu einem Handgemenge, bevor die Polizei einschritt. Vorwärts ging der Marsch bis zum Parlament, vor dem die Teilnehmer mit entblößtem Haupt das Lied "Deutschland, Deutschland über alles" schmetterten.

Der nächste Halt fand bei der Babenbergerstraße statt. Dort hatte sich eine Kolonne von Straßenbahnzügen gebildet. Die Demonstranten drohten mit Stöcken gegen die Fahrgäste und riefen: "Juden heraus!" Autos wurden angehalten und gemustert, ob darin Juden saßen. Der Vormarsch ging entlang der Ringstraße weiter. Fensterscheiben der Hotels und Geschäfte wurden zerschlagen, Passanten gejagt und insultiert, Wachsoldaten vor dem Kriegsministerium mit Steinen beworfen. Daraufhin drängte ein Polizeikordon einen Teil der Demonstranten in den dritten Wiener Gemeindebezirk ab, den anderen zwang er zur Rückkehr. Bei der Bellaria kam es zu neuen Exzessen. Fahrgäste wurden aus Straßenbahnen gezerrt und verprügelt.

Rund 2.000 Demonstranten kehrten dann entlang der Ringstraße um. Bei der Wollzeile stand ihnen Polizei entgegen. Ein Trupp von rund 300 Personen zog in die Rotenturmstraße, wo wiederum Fensterscheiben zu Bruch gingen. Dort verhaftete die Polizei 25 Personen. Rund 1.500 Demonstranten strömten zu einer Brücke über den Donaukanal, um in den zweiten Bezirk vorzustoßen, wo ein Großteil der Wiener Juden lebte. Berittene Polizei mit gezogenem Säbel, dazwischen Polizei zu Fuß, vereitelte diese Absicht. In den Abendstunden kehrte langsam Ruhe ein.

Bürgerlich ausgerichtete Blätter nahmen weder vom Antisemitentag noch von der Demonstration Notiz. Sie schwiegen einfach. Schlicht deshalb, weil ihnen mehr daran lag, auf Demonstrationen linker Kräfte hinzuweisen und an Gewalttaten von Arbeiter- und Soldatenräten im Frühjahr 1919 zu erinnern. Die "Kronenzeitung" meldete, es habe ein Antisemitentag und eine Demonstration stattgefunden. Auf eine Stellungnahme verzichtete sie - auch zwischen den Zeilen. Bestand ihre Linie darin, bloß "kan Bahö" zu machen?

Die "Arbeiter-Zeitung" erging sich darin, die ideologische Herkunft von Referenten zu markieren: "schwarzgelbe" Offiziere sowie revisionistische und paramilitärische "Agenten" aus Ungarn und Bayern. Kurz lautete ihr Kommentar: "Der Antisemitentag war die Märzfeier der Bourgeoise", sonsten nahm sie ein altes Stereotyp auf: Ein derart kleines Pogrom könne Bankjuden nicht von ihren politischen Geschäften abhalten. Die "Rote Fahne", Zentralorgan der KPÖ, schwieg zur Gänze. Sie hätte Anlass genug gehabt, den Antisemitentag scharf zu beleuchten. Immerhin hatten Parteigenossen sich dem Demonstrationszug symbolisch entgegengestellt.

Gerichtsurteile

Bagatellisierend agierte das "Neuigkeits-Welt-Blatt", ein publizistisches Angebot für den Mittelstand. Die Demonstration sei ruhig verlaufen. Den "Radau" schrieb es unverantwortlichen Elementen zu. Nicht grundlos berühmte sich dieses Blatt nach dem "Anschluss" 1938, das "älteste arische Blatt" Wiens zu sein. Noch deutlicher an die Seite des Antisemitentags stellte sich das "Neue Morgenblatt". Es bewunderte den "mustergültigen" Einsatz der Frontkämpfer. Nur Plänkeleien habe es gegeben. Abgegebene Schüsse? Knallfrösche! Dieses Blatt setzte auf die Stimme des Volkes.

Abscheu vermittelten bloß die "Neue Freie Presse" und die "Wiener Zeitung": Die Veranstalter hätten wissen müssen, dass ihre Brandreden abscheulichen Widerhall finden würden. Beide Blätter hatten viele Abonnenten in den Ländern der Krone verloren, nicht aber ihre übernational orientierte Denkwelt: "Die Brandstifter, die Fensterscheibenzerschmetterer, die Helden vom geschwungenen Stock und Schlagring haben Wien und Österreich den denkbar schlechtesten Dienst geleistet."

Im Juni 1921 standen sechs Rädelsführer vor dem Landesgericht. Die Anklage: Störung der öffentlichen Ruhe und Widerstand gegen die Staatsgewalt. Zwei Personen wurden zu einem einmonatigen Arrest, zwei zu einem zweiwöchigen verurteilt. Bedingt. Eine milde Strafe, wie linke Blätter im Vergleich mit Urteilen gegen linke Ruhestörer klagten. Zwei Angeklagte wurden freigesprochen.

Einer davon war Otto Wächter, Jurastudent, 20 Jahre später hochrangiger SS-Offizier im Distrikt Galizien. Dort beging er schwere Kriegsverbrechen. Der Justiz entkam er nur, weil er sich vier Jahre lang in der Bergwelt der Hohen Tauern versteckt hatte, danach in einem römischen Kloster, um auf eine Möglichkeit zur Weiterreise nach Argentinien zu warten. Unter dem Decknamen Alfredo Reinhardt starb er im Juli 1949 in den Armen von Bischof Alois Hudal an einer Leptospirose.

Wolfgang Duchkowitsch lehrt und forscht an der Universität Wien
(Publizistik & Kommunikationswissenschaft) sowie an der
Fachhochschule St. Pölten; Mitherausgeber von "Frauen.Medien.Krieg"
(LIT-Verlag 2020).