)
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 12 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Im April 1987 veranstaltete die Kulturabteilung der Stadt Wien unter dem Titel "Die Stadt und die Wissenschaft" ein programmatisches Symposium. Der deutsche Soziologe René König, ein Großer seines Faches, hielt einen viel beachteten Festvortrag zum Thema "Wissenschaft für die Großstadt". Ermuntert durch das rege Interesse, das Königs Auftritt hervorgerufen hatte, gründete die Stadt danach die "Wiener Vorlesungen", die seither in loser Folge im Festsaal des Wiener Rathauses stattfinden.
Das Thema "Urbanität", das René König angeschlagen hatte, gehört bis heute zu den Leitmotiven dieser Vortragsreihe. Hubert Christian Ehalt - manche nennen ihn den spiritus rector der "Wiener Vorlesungen", andere deren mastermind, aber alle wissen, dass er seit 25 Jahren der wissenschaftliche Leiter dieser Institution ist - Hubert Christian Ehalt also wird nicht müde zu betonen, dass die "Wiener Vorlesungen" an die urbane, intellektuelle Kultur anknüpfen, die das Wien der Jahrhundertwende auszeichnete.
Das jüdische Erbe
Dieses Wien ist sehr wesentlich durch das jüdische Bürgertum geprägt worden, das durch den Rassenwahn der Nationalsozialisten endgültig vernichtet wurde. Um an dieses Faktum nachdrücklich zu erinnern, wurden von Anfang an Männer und Frauen, die aus Österreich emigrieren mussten, als Referenten zu den "Wiener Vorlesungen" eingeladen: Stellvertretend für alle sei hier der Gehirnforscher Eric Kandel genannt, der 1929 in Wien geboren wurde und in jungen Jahren in die USA auswanderte, wo er bis heute lebt.
Kandel, Medizin-Nobelpreisträger des Jahres 2000, hat schon mehrere "Wiener Vorlesungen" bestritten; und da er nicht nur ein bedeutender Forscher, sondern auch ein hinreißend charmanter Erzähler ist, stieß er dabei auf außerordentlich reges Publikumsinteresse.
Gewiss können sich nicht alle Vortragenden mit einem Eric Kandel vergleichen. Aber der Zuspruch des Publikums ist auch bei weniger illustren Referenten und Referentinnen groß, sodass bisher rund 1200 Vortragsveranstaltungen im Rahmen dieser "Wiener Vorlesungen" abgehalten werden konnten.
In der Regel finden die Vorträge, an die sich meist rege Diskussionen anschließen, im Festsaal des Wiener Rathauses statt. Aber all das, was dem Publikum dort zu denken gibt, kann später auch in Büchern nachgelesen werden: Der Wissensfundus, der sich im Lauf der Jahre angesammelt hat, ist in neun Buchreihen mit mehr als 250 Bänden niedergelegt - darunter befindet sich auch eine "Enzyklopädie des Wiener Wissens". Seit einem halben Jahr sind die Vorlesungen auch im Fernsehen präsent: Etwa zehn ausgewählte Veranstaltungen pro Jahr werden von ORF III in Aufzeichnungen gesendet.
Die "Wiener Vorlesungen" sind nicht als Konkurrenzveranstaltung zu den Universitäten konzipiert, sondern als Ergänzung der Wiener Volksbildung. Fachgelehrte sollen hier in allgemein verständlicher Form der interessierten Öffentlichkeit wesentliche Probleme ihrer jeweiligen Wissenschaftsdisziplin nahebringen. Rein akademische Fragestellungen haben hier also keinen Platz, wohl aber die Themen und Probleme, die alle angehen - oder doch angehen sollten. An welche Themenbereiche hier gedacht wird, zeigen die "enzyklopädischen Stichworte" der fünf FestVorlesungen, mit denen das 25-Jahr-Jubiläum gefeiert wird: Sie lauten "Kosmos", "Kunst", "Umwelt", "Intellektuelle" und "Leben". (Drei dieser Vorträge haben in der vergangenen Woche schon stattgefunden, zwei folgen noch, und zwar am 20. Juni und am 12. November.)
Auch wenn die "Wiener Vorlesungen" nicht ganz und gar auf wissenschaftliche Themen beschränkt sind, nehmen diese doch den breitesten Raum ein. Es steht für den Organisator der Reihe nämlich außer Frage, dass die Wissenschaften zur Klärung der wichtigen Menschheitsfragen und -probleme Entscheidendes beizutragen haben: "Wissenschaften sind Öffnungsinstanzen", sagt Hubert Christian Ehalt, "in einer Welt, die Gefahr läuft, zu einer ,geschlossenen Anstalt‘ zu verkommen, zeigen sie Wege der Vernunft (bessere Argumente), der Wahrheit (Erkenntnisse) und der Freiheit (Wahloptionen) auf. Die Erkenntnisse der Wissenschaften betreffen die BürgerInnen, die - via Politik - für deren Förderung und Anwendung verantwortlich sind. Die Wiener Vorlesungen leisten die dafür notwendige Vermittlungsarbeit, weil Wissenschaft und Demokratie einander wechselseitig bedingen."
Nun ist es ja auch ein Element des "Wiener Wissens", dass die Spitzenleistungen der hiesigen Wissenschaft nicht in Zeiten der Demokratie zustande gekommen sind, sondern in Zeiten der Monarchie. Wer durch den Innenhof der Wiener Universität spaziert, begegnet den Statuen der Herren Boltzmann, Billroth, Rokitansky und vieler anderer, die allesamt herausragende Wissenschafter in undemokratischen Zeiten gewesen sind. Die Frage, ob Wissenschaft und Demokratie einander wirklich so notwendig "bedingen", wie Ehalt behauptet, könnte also auch einmal Gegenstand einer "Wiener Vorlesung" sein.

Ebenso ließe sich darüber streiten, ob die Welt wirklich in der Gefahr schwebt, zu einer "geschlossenen Anstalt‘ zu verkommen", wie Ehalt meint. Es wird ja - auch von manchen Kulturwissenschaftern - die Ansicht vertreten, dass wir derzeit gerade nicht in einer geschlossenen Welt leben, sondern vor den allseits offenen Horizonten der Globalisierung. Aber wie dem auch sei - die "Wiener Vorlesungen" im Rathaus bieten jedenfalls ein Forum, um solche Fragen zu diskutieren.
Damit von der Wissenschaft zur Literatur. Seit 1975 betreibt der Kunstverein Wien in der Schönlaterngasse 9 im ersten Bezirk das "Literarische Quartier Alte Schmiede". In diesen Räumen war einstmals eine Schmiede untergebracht, deren Relikte heute noch zu sehen sind. Dort ist auch regelmäßig experimentelle Musik zu hören, aber das Hauptaugenmerk liegt auf der Literatur.
Neue Räume
Im Jahr 2010 wurde das Quartier umgebaut: Der alte, ebenerdige Veranstaltungssaal im Hof, der für lange Zeit die etwas strenge Kulisse für alle Lesungen gewesen ist, wurde aufgegeben. Stattdessen entstand im Keller des Hauses ein neuer Saal, der doppelt so groß ist wie sein Vorgänger (200 Plätze statt 99). Dieser Saal bildet zusammen mit der bereits als Veranstaltungsraum genutzten "Alte Schmiede Werkstatt" im Parterre eine Einheit.
Am 14. Mai findet in diesem neu gestalteten Ambiente die 5000. literarische Veranstaltung der "Alten Schmiede" statt: Der Lyriker Michael Lentz und Bernhard Fetz, der Direktor des "Österreichischen Literaturarchivs", kommentieren "Laut und Luise". Dieser Gedichtband, den Ernst Jandl 1966 veröffentlicht hat, wird als "Grundbuch" vorgestellt. ("Grundbücher der österreichischen Literatur seit 1945" heißt eine Veranstaltungs- und Publikationsreihe des Literarischen Quartiers, die von Klaus Kastberger und Kurt Neumann betreut wird.)
Allerdings kommt im "literarischen Quartier" nicht jede denkbare Spielart des literarischen Ausdrucks zu Wort. Hier wird die kritische, formal eigensinnige Literatur gepflegt, die sich den Vorgaben der Mainstream-Kultur zu entziehen sucht.
Die Entschiedenheit für diese Literatur hat nicht nur ästhetische, sondern auch literaturpolitische Gründe. Kurt Neumann, seit 1977 der Leiter des Quartiers, erklärte jüngst aus Anlass der bevorstehenden Jubiläumslesung: "In Verbindung mit der rasanten Spektakelisierung des gesamten gesellschaftlichen Lebens mittels medialer Inszenierung wird die Beseitigung des Emanzipationsgedankens aus öffentlichen kommunikativen Gefügen radikal vorangetrieben. Das entstehende Machtgefälle zwischen Vermittlungsinstitutionen und den künstlerisch Tätigen richtet sich strukturell gegen die Vorstellung eines freien, selbstbestimmten und vom herrschenden Konformitätsdruck unabhängigen literarischen Künstlertums."
Es ist gewiss nicht zu leugnen, dass das kulturelle Leben in den vergangenen zwei Jahrzehnten eine Tendenz zum Spektakel, auch "Event" genannt, entwickelt hat. Und es ist begreiflich, dass Liebhaber anspruchsvoller Literatur von Endzeit-Gedanken heimgesucht werden, wenn sie etwa auf allen Kanälen darüber informiert werden, dass Lady Gaga mehr Facebook-Freunde hat als Barack Obama - als ob das eine bedeutsame Nachricht wäre.
Gegen derartige Oberflächenreizungen behauptet sich die "Alte Schmiede" trotzig als Alternative. In der aktuellen Ausgabe ihrer Zeitung "Der Hammer", die der Obdachlosenzeitung "Augustin" beiliegt, stellen "Schmiede"-Autoren wie Ferdinand Schmatz, Marie-Thérèse Kerschbaumer, Herbert J. Wimmer und andere die Werke verstorbener Kollegen vor: Reinhard Priessnitz, Gerald Bisinger, Andreas Okopenko . . .
So entsteht eine Galerie der österreichischen Avantgarde der letzten vierzig Jahre, die hier unter der leicht pathetischen Überschrift "Währende Kraftquellen unserer Literatur" zusammengefasst sind. Wie in der Reihe der "Grundbücher" ist also auch hier das Bestreben erkennbar, eine spezifisch österreichische Tradi-tion des sprachkritischen, nicht-narrativen, gattungssprengenden Schreibens als Kanon zu etablieren. Und dabei wird "unsere Literatur" konstruiert, die den Hervorbringungen Anderer katego- rial überlegen zu sein scheint.
Sehr vieles, was in der "Alten Schmiede" zu hören war und ist, hat seine Schönheiten und Qualitäten. Wer sich aber selbst nicht zum Kreis der Avantgarde zählt, fragt sich zuweilen, ob jede Eventkultur notwendigerweise "Konformitätsdruck" bedeutet, und ob sich "Emanzipationsgedanken" ausschließlich in jenen literarischen Formen artikulieren lassen, die als "experimentell" kanonisiert sind. Aber Antworten auf diese Fragen werden wohl nicht in der "Alten Schmiede" gegeben.
Hermann Schlösser, geboren 1953, ist Germanist, Anglist und Redakteur des "extra".