Vor 80 Jahren nahm Hitler zwei Balkone in Wien "in Betrieb". Dass seither nichts mit diesen geschah, ist im Gedenkjahr zu bedauern.
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Von Balkonen aus wurden nicht nur Friedensverträge freudig emporgehoben und Fahnen geschwenkt. Man rief auch totalitäre Reiche von diesen aus und erklärte Kriege. Auch das "Anschluss"-Jahr 1938 wurde maßgeblich von Wiener Balkonen aus inszeniert. Da ist zunächst jener auf dem Heldenplatz, von dem Adolf Hitler am 15. März zu zehntausenden Jubelnden sprach. Der Hofburg-Altan ist weltbekannt, dafür sorgte die NS-Propaganda.
Der andere Un-Ort des Verkündens liegt genau vis-à-vis, in der Sichtachse des Heldenplatzes. An diesen Balkon, mitten an der Fassade des Wiener Rathauses, erinnerte die Kunstinitiative "Memory Gaps" diesen Oktober und November mit zwei Interventionen. Der 80. Jahrestag der NS-Novemberpogrome bietet Anlass, auch über diesen Balkon nachzudenken.
Ein eigener Balkon wie ein Denkmal für Hitler
Nur wenige wussten, dass Hitler nicht nur auf dem Altan der Hofburg, sondern auch auf dem eigens für ihn errichteten Balkon des Wiener Rathauses auftrat. Kaum jemandem war bekannt, dass dieser provisorische Holzbalkon einige Monate später "zu Ehren Hitlers" in Stein nachgebaut wurde. Und so gut wie niemand wusste, dass er auf dem Hauptturm des Rathauses heute noch existiert - unkommentiert, mit Pflanzen dekoriert und von nichtsahnenden Touristen fotografiert.
Bereits wenige Wochen nach dem "Anschluss" verkündete Joseph Goebbels von diesem Balkon aus am 9. April 1938 um 12 Uhr den "Tag des Großdeutschen Reiches". Minuten später trat im Rahmen derselben Propagandaveranstaltung auch Hitler auf den Holzbalkon. Er blickte auf die ihm zujubelnde Menge herab. Der Rathausplatz hieß zu diesem Zeitpunkt längst Adolf-Hitler-Platz. Am darauffolgenden Tag erfolgte die "Volksabstimmung über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich".
Wie soll heute mit einer solchen "Wiener Erinnerungslücke" umgegangen werden? Der Hitler-Balkon am Rathaus ist kein Originalbauteil, sondern wurde ausdrücklich wie ein Denkmal für Hitler an die Turmloggia angefügt. "Memory Gaps" empfahl daher den Abriss des Balkons. Auch, weil er gegen die architektonische Linie des Hauptturmes verstößt. Da Letzterer 2019 restauriert werden soll, könnten Abriss und Rückbau kostenschonend erfolgen und hätten auch historisch-kulturpolitischen Symbolwert.
Der Rest vomHaus der Geschichte
Alternativ dazu könnte vom belasteten Balkon aus, anlässlich des 100. Jahrestages der Republik-Gründung, eine aktuelle oder historische Friedensrede als versöhnende Proklamation verlesen werden. Auch eine Stätte des Gedenkens für die während der NS-Zeit ermordeten Gemeinderäte und städtischen Beamten käme in Frage.
Freudig wird in Wien derzeit ein neues Museum akklamiert. Vor wenigen Jahren noch auf großzügige 3000 Quadratmeter Fläche konzipiert, schrumpfte es zur Eröffnung am 10. November auf die Größe von ein paar Wiener Altbauwohnungen: 750 Quadratmeter Ausstellungsfläche. In Anlehnung an einen Georges Clemenceau zugeordneten Ausspruch könnte man über die verbliebenen Geschichtsräume auch sagen: "Das Haus der Geschichte est ce qui reste."
Die historische Auseinandersetzung mit belastetem Erbe ist schwierig. Mit beiden Un-Orten des Proklamierens könnte vieles geschehen. Lediglich "Dienst nach Vorschrift"-Messingtafeln in fünf Sprachen anzubringen und mit QR-Codes für Touristen zu versehen, wirkte im 80. Jahr des Gedenkens jedoch unzureichend und beliebig.
Konstanze Sailer ist deutsch-österreichische Malerin und hat die digitale Kunstinitiative des Gedenkens Memory Gaps im Jahr 2015 ins Leben gerufen. Monat für Monat werden Ausstellungen von physisch realen Kunstwerken in virtuellen Räumen eröffnet, die an sämtliche NS-Opfergruppen erinnern.
Dominik Schmidt ist Sprecher der Kunstinitiative.